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Migration in Deutschland und demografischer Wandel: Was hilft dem Sozialstaat?

Die deutsche Bevölkerung wird immer älter. Eine Studie des Ökonomen Bernd Raffelhüschen kommt zu dem Schluss, dass sich Deutschland den Sozialstaat nicht mehr leisten kann und Migration ein Minusgesch ...
Die deutsche Bevölkerung wird immer älter. Um den demografischen Wandel zumindest ein bisschen auszugleichen, kann Migration helfen.Bild: pexels / andrea paicquaidio
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Demografischer Wandel: Warum Migration dem Sozialstaat helfen kann

20.01.2024, 15:22
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Das Thema Migration sorgt regelmäßig für harte Debatten. Politiker:innen der SPD, FDP oder der Grünen versuchen die Einwanderung schmackhaft zu machen, indem sie auf den demografischen Wandel eingehen. Migration, so die Argumentation, brauche es, um den Staat am Laufen zu halten. Auch deshalb hat die Ampel ein modernes Einwanderungsrecht geschaffen.

Die AfD hingegen will von Einwanderung in all ihren Formen natürlich nichts wissen. Anfang Januar hat "Correctiv" eine Recherche veröffentlicht, wonach einige AfD-Politiker:innen bei einem Geheimtreffen mit Rechtsextremist:innen Pläne zur "Remigration" geschmiedet haben.

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Eine neue Studie des Freiburger Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen spielt der Rechtsaußen-Partei nun womöglich in die Karten.

Zumindest fühlt sich die Partei von den Ergebnissen der Studie "Ehrbarer Staat? Fokus Migration zur fiskalischen Bilanz der Zuwanderung" von der Stiftung Marktwirtschaft in ihrer Migrationspolitik bestätigt. Heraus kommt nämlich, dass Migration ein Minusgeschäft sei.

Beschäftigt hatten sich die Studienautoren mit der Frage, ob und wie Arbeitsmigration für den deutschen Sozialstaat gewinnbringend ist. Die Studie wird innerhalb der Migrations- und Arbeitsmarktforschung auch kritisiert.

In einer Studie kommt Volkswirtschaftler Bernd Raffelhüschen zu dem Schluss, dass Migration ein Minusgeschäft und der Sozialstaat in seiner Form nicht tragbar ist.
Der Fachkräftemangel wird in Deutschland zunehmend zum Problem.Bild: pexels / pavel chernogov

Volkswirt kritisiert Methodik der Migrationsstudie

So erklärt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Gespräch mit watson, dass Raffelhüschen und seine Co-Autor:innen wichtige Punkte außer Acht ließen. Brücker ist der Leiter des Fachbereichs "Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung".

Bei der Studie Raffelhüschens wurden verschiedenen Szenarien durchgerechnet, während einige Rahmenbedingungen, etwa eine Integrationsdauer von sechs Jahren, nicht verändert wurden. Die Studie unterstelle bis in die ferne Zukunft die Fortschreibung des Status quo, mit Ausnahme einiger bereits beschlossener Reformen wie die Rente mit 67, führt Brücker aus.

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen, von Älteren und das Steuer- und Abgabensystem hingegen würden konstant gehalten. Dies führe zu dem unrealistischen Ergebnis, dass jeder neu geborene Mensch in einem Szenario ohne Migration bereits die Staatsverschuldung um rund 470.000 Euro erhöhe, meint Brücker. Auch jede:r, der oder die dazu kommt, durchschnittlich verdient und staatliche Leistungen in Anspruch nimmt, erhöhe folglich die Staatsschuld.

Raffelhüschen erklärt auf watson-Anfrage, dass die Modellierung mit den Inzidenzannahmen zusammenhänge, der Einfluss auf die Ergebnisse dennoch marginal sei. Inzidenzannahmen bei der Generationenbilanzierung sind Thesen darüber, wie viele Menschen Steuern bezahlen beziehungsweise staatliche Leistungen beziehen. Auch das deutsche Finanzministerium, stellt Raffelhüschen klar, verwende die Nachhaltigkeitsmessung mithilfe der Generationenbilanz.

Die Autoren der Studie kommen letztlich zu dem Schluss, dass sich (Arbeits-)Migration negativ auf die sogenannte Nachhaltigkeitslücke auswirkt. Diese berechnet die Nachhaltigkeit der Fiskalpolitik – im Grunde geht es darum, zu errechnen, wie viel Geld Deutschland sparen muss, um sich auch in Zukunft den Sozialstaat in jetziger Form leisten zu können.

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Laut der Raffelhüschen-Studie ist der Sozialstaat in seiner Form nicht fortführbar.Bild: imago images / Michael Gstettenbauer

Migration kann aus Sicht der Autoren die Probleme, die der demografische Wandel mit sich bringt, nicht aufhalten. Beim ZDF fordert Studienautor Raffelhüschen deshalb, die Einwanderungspolitik so auszurichten, dass vorrangig Menschen kommen, die mindestens durchschnittlich qualifiziert seien.

Experte rechnet mit positiven Effekten von Migration auf Fiskus

Brücker hingegen geht davon aus, dass Migration demografische Effekte sehr wohl abschwächen könnte. Denn durch Migration würde sich die Staatsschuld in Zukunft auf viel mehr Köpfe im erwerbsfähigen Alter verteilen. Brücker beruft sich auf ein Szenario, in welchem laut Schätzungen des Statistischen Bundesamtes 2070 ohne Migration 30 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland leben, mit Migration dürften es 44 Millionen sein.

Und am Ende komme es auf die Belastung pro Kopf an. Brücker führt aus: "Davon hängt ab, wie stark der Einzelne sein Verhalten und seinen Konsum für eine nachhaltige Finanzierung der Staatsfinanzen ändern muss."

Ein weiteres Problem: Der Studienansatz beachte nicht, dass durch die Ausweitung des Arbeitsangebots durch Migration die Einkommen anderer Gruppen steigen. Brücker nennt in diesem Zusammenhang Unternehmen. Deren Einkommenssteigerungen schlagen sich wiederum in höheren Steuer- und Abgabenzahlungen nieder.

Es werde schlicht vergessen, dass jede Ökonomie auch Arbeitskräfte braucht, auch wenn sie weniger als der Bevölkerungsdurchschnitt verdienen. Weil dies nicht gemacht werde, wird der Beitrag der Migration zum Bruttoinlandsprodukt und zur fiskalischen Bilanz des Sozialstaats erheblich unterschätzt.

Auch für die Energiewende werden zahlreiche Fachkräfte gebraucht.
Auch für die Energiewende werden zahlreiche Fachkräfte gebraucht.Bild: pexels / pixabay

Demografischer Wandel wird zum Problem bei Rentenfrage

Der größte Brocken im Sozialstaat sei die Absicherung im Alter, meint Brücker: also Rente, Pflegeversicherung und Gesundheitsversorgung. In einem Szenario ohne Migration würde das Verhältnis der Bevölkerung über 65 Jahren zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 37 Prozent auf 67 Prozent im Jahr 2070 steigen.

Das heißt auf eine:n Arbeiter:in kämen 0,67 Senior:innen. Im Jahr 2000 waren es etwa noch 0,34. Die Pro-Kopf-Belastung würde also stark steigen. Bei einer Nettomigration von 400.000 Menschen pro Jahr wäre dieser Anstieg geringer: Er läge bei etwa 49 Prozent. Um das Rentenniveau zu halten, brauche es daher sowohl Migration als auch eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit.

Die aktive Arbeitsmarktpolitik, die Deutschland schon heute betreibe, ist aus Sicht des Experten sinnvoll. "Deutschland hat inzwischen eine der höchsten Erwerbstätigenquoten weltweit", sagt Brücker. Die Finanzierung der Rentenversicherung hänge dennoch stark von der Einwanderung ab, räumt er ein. Hier habe der Studienautor einen Punkt. "Wenn wir die demografische Struktur und das Rentensystem so lassen, wie sie ist, dann läuft das finanziell aus dem Ruder", sagt Brücker.

Deutschland muss Einwanderungsland werden

Diese große Herausforderung würde in der Studie allerdings nicht abgebildet. "Wenn wir bei den Erwerbstätigenquoten von Älteren und Frauen jetzt noch dort stünden, wo wir vor 15 Jahren standen, hätten wir schon heute im Sozialstaat eine viel dramatischere Situation", stellt der Volkswirt klar. Darüber hinaus müssten die Hürden für Arbeitsmigration gesenkt werden, meint Brücker.

Schon heute sei es so, dass Menschen, die als Arbeitsmigrant:innen nach Deutschland kämen, höhere Erwerbstätigenquoten erreichen als Deutsche und gleichzeitig viel weniger soziale Transferleistungen in Anspruch nähmen. Der Zuzug aus Staaten der EU gehe mittlerweile zurück, daher sei Deutschland in Zukunft stark auf die Migration aus Drittstaaten angewiesen.

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Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) setzt sich für die leichtere Einwanderung von Fachkräften ein.Bild: dpa / Bernd von Jutrczenka

Axel Plünnecke von Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) spricht sich im Gespräch mit watson dafür aus, gerade qualifizierte Zuwanderung zu stärken. Besonders attraktiv sei laut Plünnecke die Zuwanderung über die Hochschulen. So könne Deutschland mehr Zuwanderer:innen aus Drittstaaten wie Indien gewinnen. Auswertungen des IWs legen nahe, dass diese Gruppen bereits in den vergangenen zehn Jahren maßgeblich zur Fachkräftesicherung in akademischen Mint-Berufen beitrugen.

Aus Sicht von Brücker geht es aber nicht nur um hoch qualifizierte Arbeiter:innen, denn es gibt in Deutschland auch einen starken Bedarf am unteren Ende des Qualifikationsspektrums. Wichtig sei vor allem, dass Deutschland die Hürden für die Arbeitsmigration senke und auf eine Gleichwertigkeitsprüfung bei im Ausland erworbene Berufsabschlüsse verzichte, sofern ein qualifiziertes Arbeitsplatzangebot vorliege.

Die aktuelle Gesetzgebung, meint Brücker, gehe das Problem unzureichend an.

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