Zusätzlich zu den Geflüchteten aus der Ukraine, suchen auch immer mehr Menschen aus anderen Krisenregionen über die sogenannte Balkanroute Zuflucht in Deutschland. Bild: IMAGO / TT
Analyse
Kriege, Klimawandel, Katastrophen – es gibt zahlreiche Gründe, warum Menschen aus ihrer Heimat flüchten. Mehr als 1,1 Millionen Menschen haben dieses Jahr schon Zuflucht in Deutschland gesucht. Die meisten Geflüchteten stammen aus der Ukraine. Sie können ohne Visum einreisen und müssen für einen legalen Aufenthalt keinen Asylantrag stellen.
Ukrainische Geflüchtete mit ihrem Gepäck in einer Flüchtlingsunterkunft in Hamburg.Bild: dpa / Marcus Brandt
Doch all diese Menschen müssen untergebracht werden – jetzt, da der Winter vor der Tür steht. Städte und Gemeinden schlagen Alarm. In Dresden wird die Messe als Notunterkunft für Geflüchtete vorbereitet, Leipzig plant Zeltstädte, Berlin sieht sich am Limit.
2015 führten hohe Asylbewerberzahlen aus Syrien zu einer Verwaltungs- und Infrastrukturkrise in Deutschland – zu der sogenannten "Flüchtlingskrise". Nun warnen Stimmen aus Politik und Verwaltung, dass sich dieses Szenario wiederholen könnte.
Die sächsische Stadt Dresden richtet Unterkünfte für Geflüchtete in der Messe ein.Bild: imago / Sven Ellger
Polizeigewerkschafter warnt vor neuer Migrationskrise
"Der Migrationsdruck steigt täglich und die Bundesregierung übt sich weiter in Handlungsunfähigkeit", meint Manuel Ostermann im Gespräch mit watson.
Der Bundespolizist und stellvertretende Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft (DPoIG) warnt: "Wir stecken inmitten einer Migrationskrise analog zu 2015." Die Bilder seien andere, aber die Auswirkungen identisch. Die illegale Migration nehme drastisch zu.
Dabei bezieht er sich nicht auf die Geflüchteten aus der Ukraine, sondern weist unter anderem auf die Türkei hin. "Von dort machen sich zig Tausende Menschen auf den Weg nach Europa", sagt Ostermann, der auch CDU-Mitglied ist.
Nancy Faeser hält Flüchtlingsgipfel aufgrund der angespannten Lage ab
Angesichts der steigenden Geflüchtetenszahlen hat sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit Vertretern von Ländern und Kommunen bei einem Flüchtlingsgipfel ausgetauscht. Dabei wurde beschlossen, die Kontrollen an der Grenze zwischen Bayern und Österreich über den November hinaus zu verlängern.
Der Bund stellt zusätzlich 56 Immobilien zur Unterbringung von Geflüchteten zur Verfügung. Faeser fordert zudem die serbische Regierung auf, die visumfreie Einreise für Staatsangehörige vieler Drittstaaten zu stoppen. Davor warnt auch Ostermann.
"Deutschland ist wiederholt das zentrale Ziel."
Bundespolizeigewerkschafter Manuel Ostermann (CDU)
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verkündet die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels.Bild: dpa / Wolfgang Kumm
Einreisebestimmungen nach Serbien bereiten der Bundesregierung Sorgen
Serbien hat die Visa-Pflicht für eine Vielzahl von Staaten ausgesetzt. Dadurch können Drittstaatsangehörige für drei Monate ohne Hürden einreisen und sich in Serbien frei bewegen. Drittstaaten sind alle Staaten, die kein Mitglied der EU sind.
Der Experte sagt dazu:
"Serbien wird zur Drehscheibe für die Migrationsbewegung nach Europa. Der illegalen Migration wurde Tür und Tor geöffnet und die Schlepperbanden haben im wahrsten Sinne des Wortes Hochkonjunktur."
Die neue Migrationsroute führe von Serbien, über Bratislava (Slowakei) und Prag (Tschechien) nach Dresden, meint der Bundespolizist Ostermann. "Deutschland ist wiederholt das zentrale Ziel", sagt er und weist darauf hin, dass die europäischen Partner bereits reagiert hätten. Tschechien habe zur Slowakei Grenzkontrollen eingeführt, welche bereits verlängert wurden.
Bundespolizist und Gewerkschafter Manuel Ostermann warnt vor einer Migrationskrise wie 2015.Bild: bild / privat
Die Bundespolizeigewerkschaft (DPolG) hat laut Ostermann schon seit Wochen genau vor dieser Entwicklung gewarnt und der Bundesinnenministerin ein umfassendes Strategiepapier vorgelegt. "Leider ist die aktuell vorherrschende Ignoranz bei der zielführenden Bewältigung der Migrationslage ein Sicherheitsrisiko für die Bundesrepublik Deutschland", sagt er.
Aus seiner Sicht täte die Bundesregierung gut daran, zum Wohle der Sicherheit und der Humanität einige Maßnahmen umzusetzen:
- Einführung temporär stationärer Grenzkontrollen
- Zusammenziehung zuständiger Behörden, um ein zentralisiertes Verfahren zu gewährleisten
- Konsequente Unterbindung von Binnenmigration nach rechtsstaatlichen Maßgaben
- Enger Austausch mit den europäischen Partnern zur Eindämmung der Migrationsbewegung an der EU-Außengrenze
- Einführung eines ständigen Stabes Migration zur Entlastung der Kommunen und Gewährleistung geordneter Verfahren
Die Handlungslethargie muss Ostermann zufolge schnellsten ein Ende finden – sprich, die Bundesregierung sollte jetzt handeln.
Er sagt dazu:
"Ein geordnetes Verfahren und eine klare rechtliche Legitimation sind essenziell mit Blick auf die Lageentwicklung. Genau deswegen ist die Kernforderung der Bundespolizeigewerkschaft (DPolG) die Einführung temporär stationärer Grenzkontrollen."
"Wir schaffen das nicht", meint Ostermann und weist dabei auf den viel zitierten Satz der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Flüchtlingskrise 2015 hin. "Wir schaffen das" sei nichts weiter als eine rhetorische Floskel außerhalb der Realität. Das sieht Erik Marquardt (Grüne) ganz anders.
"Wir steuern auf keine Migrationskrise zu."
Grünen-Politiker Erik Marquardt
Grünen-Politiker Marquardt kann Angstmacherei nicht verstehen
Diese Rhetorik – Deutschland sei ein Schlaraffenland, wo jeder nach Lust und Laune rein könne – ist dem Grünen-Politiker zufolge gefährlich. Das Gegenteil sei der Fall: "Es gibt keine offenen Außengrenzen. Das ist eine Parallelrealität, die vor allem von Rechten für Propaganda genutzt wird."
Laut Marquardt werden Menschen illegal und gewaltvoll aus der EU rausgeprügelt und sterben an unseren Außengrenzen, "aber Herr Ostermann tut so, als dürften alle einfach so in die EU reinspazieren."
Grünen-Politiker Erik Marquardt warnt vor Angstmacherei durch Konservative und Rechte.null / Marquardt
"Wir steuern auf keine Migrationskrise zu", sagt Marquardt, der auch Mitglied des Europäischen Parlaments ist. Solch eine Angstmacherei entspreche nicht der Realität und spielt dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Hände. Das habe die Aussage des CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz gezeigt. Er warf ukrainischen Geflüchteten einen "Sozialtourismus" vor – eine Aussage, die von putinnahen Propagandasendern übernommen und verbreitet wurde. "Leute wie Ostermann und Merz sollen sich mal mit Geflüchteten unterhalten, sich deren Lage bewusst werden", fordert Marquardt.
Marquardt zufolge will Ostermann Stimmung erzeugen, dabei beurteile er die Lage nicht korrekt. Die Forderungen, Grenzkontrollen innerhalb der EU einzuführen, könne rechtlich und politisch nicht funktionieren:
"Die europäische Reisefreiheit ist eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union – das können wir nicht einfach aufgeben, weil Konservative und Rechte gerade ein Thema brauchen."
Auch die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen sind laut Marquardt schwer realisierbar. "Dazu fehlt es schon allein an Personal, dies zu bewältigen", sagt er. Ostermann müsse das als Polizeigewerkschafter wissen.
Parolen wie "Wir schaffen die Migration nicht" fallen für Marquardt in die Kategorie "Desinformationen". Er verstehe nicht, wie sich Christdemokraten wie Merz und Ostermann in Zeiten von Krieg und Energiekrise "nicht am Riemen reißen können."
(Mit Material der dpa)
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