Ein Jahr ist es her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Ein Krieg, der bereits jetzt zigtausende das Leben gekostet hat. Bislang zeichnet sich kein für die Ukraine akzeptables Ende ab.
Dafür werden in Deutschland "Friedensaktivist:innen" lauter. Erst kürzlich hat die unheilige Allianz aus Sahra Wagenknecht (Linkenpolitikerin) und Alice Schwarzer (Publizistin) ein "Manifest für den Frieden" herausgegeben.
Knapp eine halbe Million Menschen haben das Pamphlet unterschrieben. Es ist nicht das erste seiner Art – auch 2022 haben Intellektuelle, Autor:innen und Künstler:innen offene Briefe geschrieben. Haben gefordert, das Töten zu stoppen.
Auch um den Jahrestag herum gibt es zahlreiche Friedensdemonstrationen. Zwar steht die Mehrheit der Deutschen noch immer solidarisch an der Seite der Ukraine. Umfragen zeigen aber auch, dass eine Kriegsmüdigkeit zunimmt.
Laut einer Umfrage des internationalen Meinungsforschungsinstituts Ipsos geben mittlerweile 43 Prozent der Befragten an, dass die Probleme der Ukraine Deutschland nichts angingen. Das seien 11 Prozentpunkte mehr als im April 2022.
Für Militärpsychologe Hubert Annen von der Militärakademie der ETH Zürich ist die deutsche Kriegsmüdigkeit wenig verwunderlich. Schließlich seien alle jeden Tag mit dem Krieg in der Ukraine konfrontiert, sehen die Bilder in den Nachrichten, auf Social Media, in der Zeitung. "Das sind Bilder und Berichte, die die Energie rauben", erklärt Annen.
Und da der Mensch sich mit diesen Ereignissen arrangieren müsse, sei eine gewisse Distanzierung bis hin zur Gleichgültigkeit möglich. "Das ist eine Art Schutzmechanismus", stellt der Psychologe klar. Hinzu käme, dass die deutsche Bevölkerung nicht direkt betroffen sei. Das Horrorszenario der Energieknappheit sei außerdem nicht eingetreten.
Dem gegenüber stünden die Angst vor einem Atomschlag und dem Ausbruch des dritten Weltkrieges. "Das Individuum zieht seine persönliche Bilanz und kann zu dem Schluss kommen: offensichtlich kann man sich damit arrangieren", fasst Annen zusammen. Denn die Hoffnung sei, mit einem schnellen Frieden einen nuklearen Krieg zu verhindern.
Aus diesem Grund sei es für beide Seiten wichtig, bedeutsame Erfolge zu erzielen. Sowohl Russland als auch die Ukraine müssten darauf achten, wie sie die Meinung beeinflussen und bilden können. "Es kommt stark darauf an, wie die jeweiligen Kriegsparteien ihre Erfolge erzielen oder informationsmäßig nutzen können", sagt Annen.
Deshalb seien die Opferzahlen streng geheim, schließlich müsste die eigene Bevölkerung bei der Stange gehalten werden. Und nicht nur das. Für die Ukraine, meint Annen, sei es auch essenziell, den westlichen Verbündeten Erfolge präsentieren zu können. Denn sollte die Bilanz nicht mehr stimmen, wäre es möglich, dass die Unterstützung schwindet.
Bislang ist das aber nicht der Fall. Was in Deutschland vor allem zu beobachten sei, meint Matthias Dembinski von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, sei die weitere Unterstützung, wenn es zum Beispiel um die Lieferung von Waffen gehe. Auch wenn die Zustimmung mittlerweile etwas bröckele.
Klar sei aber auch: In der deutschen Bevölkerung finden sich zwei Lager und dazwischen viel Graufläche. "Es gibt das Friedenslager und das Gerechtigkeitslager", sagt Dembinski. Er führt aus:
Die Stärke der Lager hänge von der Fragestellung der Umfrage ab. "In Deutschland hat wahrscheinlich das Friedenslager die Mehrheit, in vielen anderen Ländern – gerade den östlichen Nato-Staaten – das Gerechtigkeitslager", sagt Dembinski. Teil dieses "Friedenslagers" sind auch Wagenknecht und Schwarzer, sie fordern Verhandlungen.
Aus Sicht von Dembinski ist ein gerechter Frieden zum aktuellen Zeitpunkt schwer vorstellbar. Und damit auch erfolgreiche diplomatische Verhandlungen. Er erklärt: "Eine Niederlage einzustecken, wäre für Wladimir Putin eine Katastrophe." Putin suche wohl einen Ausweg, den er als Sieg verkaufen könnte – "solange er diese Option nicht sieht, wird er die Verhandlungen verweigern."
Bei der Ukraine sei die Sache aus Sicht des Friedens- und Konfliktforschers umgekehrt: "Sie hofft darauf, dass sie mit den westlichen Waffenlieferungen, die im Frühjahr oder Sommer ankommen dürften, eine erfolgreiche Offensive starten kann." Solange die Ukraine diese Hoffnung habe, werde sie einem Frieden, bei dem die Frontlinie eingefroren und das Land geteilt wird, nicht zustimmen.
Mit Blick auf die vielen Toten, Verletzten und Vertriebenen ist der Wunsch nach Frieden von Wagenknecht und Schwarzer verständlich. "Die Initiative krankt aber daran, dass sie verlangt, dass die Ukraine das Unrecht, das ihr angetan wurde, akzeptiert", sagt Dembinski. Das wäre eine politische Zumutung, stellt der Experte klar.
Auch Militärpsychologe Annen meint, man dürfe den Menschen, die sich Frieden wünschten, keinen Vorwurf machen. Denn dieser Impuls habe auch mit den Begrifflichkeiten Krieg und Frieden zu tun. Frieden ist positiv konnotiert, Krieg negativ. Wer sich also für den Frieden einsetze – ohne an den besagten Preis für die Ukraine zu denken – stehe vor sich selbst besser dar.
Mit Blick auf die Bewegung um Wagenknecht und Schwarzer skizziert Militärpsychologe Annen ein Szenario:
Dabei würde ein wichtiger Punkt vergessen: der Preis. Und der wäre für die Ukraine hoch. Schließlich geht es um die Souveränität, die territoriale Selbstverwaltung, Freiheit, Demokratie. Der breiten Bevölkerung das klarzumachen, sei eine große Herausforderung, meint der Militärpsychologe.
Annen zieht zur Verdeutlichung einen Vergleich heran: Menschen sollten sich vorstellen, Fremde besetzten ihr Haus. Der Vorschlag von Wagenknecht und Schwarzer würde bedeuten, dass diese Fremden in einem Teil des Hauses bleiben dürften, während der:die eigentliche Eigentümer:in sich mit den restlichen Zimmern begnügt. Für die wenigsten dürfte das eine akzeptable Lösung sein.
Aus diesem Grund müsse die Politik der Bevölkerung klarmachen, was ein Frieden zu den aktuellen Konditionen bedeuten würde. Auch, dass dieser Tür und Tor öffnen würde, für vergleichbare Aktionen. An einen ungerechten Frieden zugunsten Russlands könnten sich also weitere Kriege und Konflikte anschließen. Der Imperialismus Russlands könnte weitergehen.
Wie aber, können Menschen mit den Bildern und Nachrichten, der Bedrohung und der Ohnmacht umgehen? Für Annen gibt es zwei Herangehensweisen: Auf der einen Seite hätten die meisten Menschen im vergangenen Jahr eine gewisse Routine entwickelt, sich zu distanzieren. Auch Zynismus könne helfen, mit der Situation klarzukommen. Diese Strategie sei in der Ukraine vielfach zu beobachten. Ein Schutzmechanismus.
Was außerdem helfen könne: Einen Beitrag leisten. Menschen in Deutschland könnten zum Beispiel Spenden sammeln oder Geflüchtete aufnehmen. Die aktive Unterstützung würde gegen das Gefühl der Machtlosigkeit helfen, meint Annen.