Die sich überlagernden Krisen sind eine extreme Belastungsprobe.Bild: pexels / shvets production
Meinung
"Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor", erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seiner berühmten Zeitenwende-Rede am 27. Februar 2022. Das war wenige Tage, nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist.
In den vergangenen eineinhalb Jahren ist viel geschehen. Die deutsche Bundeswehr, die lange Zeit stiefmütterlich behandelt und bis zur Einsatzunfähigkeit zerspart wurde, wird nun aufgepäppelt.
Mittlerweile dürfte vielen aber auch klar geworden sein, die Zeitenwende, die Scholz eingeläutet hat, betrifft nicht nur Krieg und Frieden auf dem europäischen Kontinent – sie betrifft nahezu jeden Bereich unseres Lebens.
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Die Millennials in Europa sind zwischen den Welten aufgewachsen: alt genug, um sich an das Modem-Piepen zu erinnern und an die Angst, aus Versehen bei ihrem Sony Ericsson auf die Internettaste zu kommen. Jung genug, um trotzdem als Digital Native und mit Social Media groß geworden zu sein.
Und vor allem mit dem absoluten Luxus der umfassenden Sicherheit – zumindest bis zu den Terroranschlägen des 11. September in den USA und den darauffolgenden Terrorjahren.
Insgesamt, so schien es, war aber alles in Butter. Eine Einschätzung, die wohl niemand für die aktuelle Zeit treffen würde. Stattdessen: Zeitenwende überall. Und damit verbunden ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit. Den meisten dürfte mittlerweile klar sein: Nichts bleibt, wie es war.
Die Zeitenwende begann vor dem russischen Angriff
Und das nicht nur, weil ein größenwahnsinniger Tyrann versucht, die Grenzen in Europa zu verschieben. Der Sommer 2023 war der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Und er war apokalyptisch: weitreichende Brände auf Hawaii, in Griechenland, Kanada und Italien. Überschwemmungen in Griechenland, Brasilien, Hongkong, Libyen. Hurrikans und heftige Stürme in den USA und der Schweiz.
Kurz gesagt: Die ganze Welt leidet unter Extremwetterereignissen. Aus dem oft beschworenen 1,5-Grad-Ziel wurde klammheimlich das 2-Grad-Ziel – offensichtlich haben wir es verkackt, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen und die Erderhitzung hinreichend einzudämmen. Jetzt wollen wir hoffen, dass aus den nun anvisierten 2 Grad nicht bald 2,5 Grad werden, 3 Grad, 4 Grad – tot.
Der Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) kam zu dem Schluss, dass eine Erderhitzung von 1,5 bis 2 Grad gravierende Risiken bergen würde, danach steigen diese exponentiell an. Dabei handelt es sich um reine Physik: Denn je wärmer es ist, umso mehr Wasserdampf kann die Luft aufnehmen – nämlich sieben Prozent pro Grad mehr. Was nach nicht viel klingt, kann unsere Welt und unser Leben unwiederbringlich und bis aufs Unkenntliche verändern.
Die Klimakrise – und ihre Eindämmung – fordern ein allgemeines Umdenken. Und damit auch eine Zeitenwende unseres Freizeit- und Konsumverhaltens. Denn natürlich stellen sich in Anbetracht all dieser Katastrophen Fragen: Wie müssen wir unser Leben verändern, um die Katastrophe nicht noch voranzutreiben? Können wir weiter unbekümmert unsere Avocados essen? Wie steht es um Tabak? Um Fisch? (Flug-)Reisen? Wintersport? Mode?
Diese Fragen fordern uns heraus, schließlich müssten wir mit Gewohnheiten und Annehmlichkeiten brechen. Hobbys aufgeben, Konsum zurückfahren. Und das allein wird nicht reichen: Denn am Ende ist es nicht der Individualkonsum, der zu Buche schlägt, sondern vor allem das Handeln großer Unternehmen – und der Politik.
Was es braucht, ist die wirtschaftliche Transformation. Aktuell wirkt es, als wäre der brutale Angriffskrieg hierfür ein Booster. Wind- und Solarenergie werden gefördert wie lange nicht. Höchste Zeit, die Energiewende noch bestimmter, noch rabiater voranzutreiben. Auch mit Druck aus der Zivilgesellschaft.
Deutschland lebt bereits seit Anfang Mai über seine Verhältnisse. Ende Juli hatte auch die gesamte Weltbevölkerung diese Schwelle erreicht – wir verbrauchen mehr, als uns zusteht. Erdüberlastung. Ein Leben auf Pump, abgezwackt von unserer Lebensgrundlage.
Wie lange können wir uns das noch leisten, bis die Kreditblase platzt?
Preise machen Menschen das Leben schwer
Apropos, leisten können: Auch die Teuerung stellt eine extreme Belastung dar. Die Preise für Lebensmittel, Energie und andere Güter sind gestiegen. Das billige Leben, dass wir vor dem russischen Angriffskrieg gewohnt waren, gibt es nicht mehr.
Aktuell kommen unsere Entscheider:innen auch nicht hinterher, etwas gegen die Explosionen auf dem Mietmarkt zu unternehmen – eine Wohnung in der Stadt ist für viele kaum bezahlbar.
Hier muss endlich ein bundesweiter Mietendeckel her – schließlich ist der Wucher nicht mehr nur ein Problem von Berlin, Hamburg und München, sondern auch von zahlreichen mittelgroßen Städten. Wohnen ist ein Grundrecht – die Fürsorgepflicht des Staates darf also nicht vor Immobilienhaien kuschen.
Wachsender Zuspruch für radikale Kräfte
Und obwohl es unserer Generation monetär gut geht, wie kaum einer zuvor, sind die späten Millennials, wie die Gen Z, auch die Generation Zukunftsangst. Kein Wunder: Nach der zweijährigen Corona-Glocke hat Europa nicht in die alte Zeit zurückgefunden. Stattdessen überlagern sich die Extremsituationen. Und wie schon früher in Krisenzeiten kommt auch die gesellschaftliche Destabilisierung hinzu.
Politisch motivierte Angriffe Rechtsradikaler nehmen zu, Geflüchtetenheime werden immer häufiger Ziel von Attacken. Die AfD ist auf dem Vormarsch, und ihre europäischen Schwesterparteien, Donald Trumps Maga-Bewegung in den USA ebenfalls. Maga steht dabei für "Make America Great Again", den Wahlspruch Trumps.
Die deutsche Rechtsaußenpartei AfD rangiert in aktuellen Umfragen zwischen 19 und 23 Prozent. 2021 wurde die vom Verfassungsschutz mittlerweile zum Prüffall eingestufte Partei mit 10,3 Prozent in den Bundestag gewählt. Innerhalb von zwei Jahren – und diversen Krisen – haben die Rechten ihre Zustimmungswerte also verdoppelt.
2023 der erste große Erfolg: Die AfD stellt im thüringischen Sonneberg den Landrat. Und das, obwohl die Partei gerade für die Menschen in Sonneberg nichts Gutes im Sinn hat. Dort nämlich leben besonders viele Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten. Und gerade für jene, die finanziell weniger gut gestellt sind, ist die selbsternannte Alternative existenzgefährdend. Das ist das Ergebnis einer Studie des DIW.
Denn statt auf einen starken Sozialstaat setzt die AfD in ihren Wahlprogrammen auf einen ungebändigten Markt. Neoliberalismus at it's best. Das interessiert aber wohl die Wähler:innen herzlich wenig. Hauptsache sie können Berlin, oder optional den Geflüchteten, eins auswischen – auch wenn das bedeutet, eine Partei stark zu machen, die ein Prüffall beim Verfassungsschutz ist.
Kopf in den Sand stecken hilft am Ende nur den Rechten
Das bedeutet: Der Inlandsgeheimdienst überprüft, ob die Gesamtpartei extremistisch und demokratiegefährdend ist. Wie sind wir hier nur gelandet? Schon wieder – Weimar reloaded. Nachdem es vor 90 Jahren so bitter schiefgegangen ist, gilt es heute, Schlimmeres zu verhindern.
Mittels Demonstrationen machen Menschen immer wieder Druck auf die Regierung.Bild: pexels / Thomas Ryant
Was klar ist: Nichts bleibt, wie es war.
Um die Realität nach der Zeitenwende mitzugestalten, hilft es nicht, gelähmt vor der Granola-Schüssel zu sitzen. Denn das aktuelle Chaos ist auch eine Chance, gerechtere Verhältnisse zu schaffen – und den Umbruch mitzugestalten.
Fest steht, dass wenn die demokratische Öffentlichkeit diese Möglichkeit nicht ergreift, die Gegner:innen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht zögern werden, diese Lücke zu füllen.
Wegducken ist momentan nicht angesagt, denn immerhin handelt es sich um unser aller Zukunft. Das heißt, dass die Zivilgesellschaft gemeinsam ihre Lebensgrundlage und die Demokratie verteidigen muss. Die Zeitenwende ist eine Zeit, um laut zu sein.