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Tag der Deutschen Einheit: Die ewige Zerrissenheit zwischen Ost und West

Tanz auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor
Auch 33 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind die Deutschen aus Sicht unserer watson-Redakteurin noch spürbar zerrissen. Bild: imago images / Sven Simon
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Tag der Deutschen Einheit: Die ewige Zerrissenheit

Die Mauer ist weg, aber das Land noch zerrissen. Unsere Autorin wuchs in Ostdeutschland auf, lebte später in Kasachstan und in den USA. Hier beschreibt sie, wie sich der andauernde Kampf zwischen Ost und West anfühlt.
03.10.2023, 09:53
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Was weiß ich schon von der DDR? Ganze drei Jahre lebte ich in ihr. Die meiste Zeit davon habe ich verschlafen und in meine Windeln gemacht. Jedoch: Das System, das Generationen prägte, verschwand nicht so schnell wie die Mauer.

Familien zerbrachen, manche zogen in den Westen, andere verfielen dem Alkohol – denn neben Gewinner:innen gab es auch Verlierer:innen der Wende.

Der Mauerfall und die Deutsche Einheit waren für manche ein wahr gewordener Traum. Für andere ein Albtraum.

Erinnerungen an ein Land, das es nicht mehr gibt

Ich rieche noch heute den Ruß in der Luft, der sich im Winter an die Haut schmiegte. Kohle, Kopfsteinpflaster, Konsum – es sind die kleinen Dinge, die mich an den Osten der 90er Jahre erinnern. Als Kind verstand ich den Witz meines Onkels noch nicht, der mich Ossi-Kind nannte, nur weil er nun im tollen Westen lebte. Ich verstand noch nicht, warum mir meine ostdeutsche Lehrerin schlechtes Englisch in der Grundschule beibrachte – dabei lernte sie es erst selbst seit wenigen Jahren.

DDR-Umsiedler in München, Deutschland: DDR-Kennung mit durchgestrichenem D und R
Ein Land kann man schnell von der Karte streichen, aber nicht im Bewusstsein der Menschen.Bild: imago images / werek

Auf dem Pausenhof versammelten sich oft Nazis mit ihren Bomberjacken. Der Junge hinter mir im Klassenzimmer zeichnete stolz das Hakenkreuz – ein Zeichen, das ich nicht kannte. Die Punks scherzten gern mit uns Kindern, doch sie stanken oft nach Bier. Graffitis übertünchten die betongrauen DDR-Hauswände: Hakenkreuze neben lauter As im Kreis, ein Symbol des Anarchismus, wie mir meine Schulfreundin erklärte.

Wahlplakate von Parteien – CDU und SPD – klebten an Strommasten. Eine neue politische Landschaft erblühte auf sächsischem Boden. Mein Dorf und die Welt herum veränderte sich – manche Leute gingen mit der Zeit, andere blieben stehen. Zentralheizungen ersetzten Kohleöfen, Asphaltstraßen das Kopfsteinpflaster und Edeka verdrängte Konsum.

Die Menschen hegten Skepsis oder Bewunderung für den Westen und seine neuen Errungenschaften, und irgendwie trage ich diese Zwiespältigkeit noch heute in mir.

Das Trennende überwiegt noch heute

Nach dem Abitur zog es mich nach Berlin. Aus Ossi-Kind wurde nur noch Ossi. Ich wurde gern und oft daran erinnert, dass ich aus den neuen Bundesländern stamme. "Das hattet ihr früher nicht, oder?", "Du sprichst ja Hochdeutsch", "Für einen Ossi bist du echt schlau" – die einen nannten es "Wessi-Arroganz", für mich war es Ignoranz. Die meisten Wessis, die ich traf, hatten bis dahin noch nie einen Fuß in den Osten gesetzt.

Jubelnde Menschenmenge w�hrend der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am Brandenburger Tor
Am 9. November 1989 öffnet die DDR ihre Grenze nach Westberlin und zur Bundesrepublik. Bild: iimago images / Dieter Matthes

Aber auch in der sächsischen Heimat meckerte man gern und viel über die Westdeutschen. Auf der Landkarte war Deutschland vereint, aber im Herzen und im Kopf pralle ich bis heute bei vielen Menschen noch immer gegen eine Mauer.

Eine Forsa-Umfrage für den "Stern" bestätigt meinen Eindruck. Eine Woche vor dem 33. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober veröffentlichte sie das Ergebnis: 60 Prozent der Bundesbürger:innen sind der Meinung, dass die Deutschen nicht zu einem Volk zusammengewachsen seien.

Doch wie die Kluft schließen?

Wie der Ossi in mir mit dem Westen verschmelzte

Ich lernte Englisch und Russisch, reiste durch Westeuropa und die ehemaligen Ostblockstaaten bis in die Steppen von Kirgisistan. In Zentralasien blieb ich hängen, lebte dort einige Monate als Journalistin. Da war er wieder – der Duft nach Kohle, die kleinen Tante-Emma-Läden und die unbefahrbaren Straßen.

Im Winter legte sich dicker Smog über die kasachische Stadt Almaty.
Im Winter legte sich dicker Smog über die kasachische Stadt Almaty.watson / anne hamilton

Die Befangenheit der Menschen, nicht offen über Politik zu sprechen, der autoritäre Überwachungsstaat mit seinen Spitzeln, die propagandistischen TV-Ansprachen und pompösen Staatsfeiern. Die Kassiererin, die vom Westen träumt. Der Taxi-Fahrer, der Putin vergöttert. Da war auch sie wieder: die Zerrissenheit. Prunkvolle moderne Geschäftshäuser neben Ostblock-Platten, Shopping-Malls mit Starbucks-Kaffee neben Supermärkten, die noch per Hand die Preise auf die Ware klebten.

Auch in Kasachstan zieht ein Hauch von westlich-kapitalistischer Aufbruchstimmung ein. Er bläst den Staub von den Schreibtischen der unangefochtenen Autoritäten, die sich wohl die Sowjettage zurückwünschen. Viele junge Kasach:innen schwärmen von den USA, wollen mehr: Fortschritt, Freiheit und Selbstbestimmung. Doch ist dort wirklich alles besser?

Moderne Häuser, teure Luxusautos: Kasachische Städte wie Almaty befindet sich im Wandel.
Moderne Häuser, teure Luxusautos: Kasachische Städte wie Almaty befindet sich im Wandel.Bild: watson / anne hamilton

USA: Der Inbegriff von Freiheit

Es zog mich in die USA, in das Mutterland der Demokratie, wo alles möglich ist. Drei Jahre lang erlebte ich den puren Kapitalismus, wo es normal ist, das iPhone nach zwei Jahren mit der neuen Version auszutauschen; die gesamten Klamotten rauszuwerfen, sobald eine neue Kollektion erscheint. Man redet viel, am liebsten über den perfekten Job, der das perfekte Haus und Auto finanziert. Irgendwie ist immer alles great, auch wenn es einem beschissen geht.

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In den USA ist alles etwas größer: ein Blick über Atlanta im US-Staat Georgia, wo die watson-Autorin gelebt hat. Bild: imago images / Iofoto Images

Schwangere arbeiten etwa in der Pflege bis zum Geburtstermin, Studierende verschulden sich mit Krediten für ihren College-Abschluss. Oft wird irgendwo jemand erschossen, so wirklich juckt das niemanden mehr. Dafür sind die Straßen schön, die entlang endloser Shops, Kirchen und Fast-Food-Ketten führen

In den Nachrichten sind die Leute oft laut. "Wir gegen sie", schreit etwa der einflussreiche konservative Moderator Tucker Carlson in seiner damaligen Sendung. In den USA hat man die Freiheit zu wählen zwischen rot und blau, konservativ und liberal, Republikaner oder Demokrat. Trump oder Biden. Die Grauzone schrumpft.

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Seit der Maga-Bewegung ist alles extremer, radikaler, verrückter. Maga steht für Trumps Wahlspruch "Make America Great Again", aber seit er die Bühne betreten hat, ist alles "worse" geworden.

Die US-Amerikaner:innen sind zutiefst gespalten – als seien sie überfordert mit dem, was sie Freiheit nennen. Abtreibung, Homosexualität, Migranten, wirre Verschwörungstheorien über liberale Eliten – alles, was man aus dem Osten von der AfD kennt, von Putins Propagandaapparat in Kasachstan – nur eine Portion schärfer. Die einen preisen Putin, die anderen verabscheuen ihn.

Da ist sie wieder, die Zerrissenheit.

Wenn ich heute mein Dorf in Sachsen besuche, über die letzten Kopfsteinpflaster mit dem Rad rattere, wird mir bewusst, dass die Welt an sich zerrissen ist. Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr, aber der Schatten der Vergangenheit hängt noch immer über unseren Köpfen wie damals der Kohlesmog.

Die Einheit muss in unseren Köpfen ankommen

Einheit – gibt es sie überhaupt? Einheit Deutschlands? Ja, wir sind ein Land, aber einig werden wir uns wohl nie sein, solange wir die Mauer nicht auch in unserem Bewusstsein einreißen. Gerade heute. In einer Welt, die polarisiert ist wie lange nicht mehr.

Mauerfall 1989,Brandenburger Tor, Pariser Platzr, Berlin Mauerfall 1989 Brandenburger Tor, Pariser Platz

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Wenn wir die Mauer auch in unseren Köpfen einschlagen, ist der Weg zu einer wirklichen Einheit frei.Bild: imago stock&people / Votos-Roland Owsnitzki

Streit ist gut, verschiedene Meinungen sind wichtig – doch nicht, wenn wir damit die Mauer zwischen uns vergrößern.

Einheit beginnt dann, wenn wir aneinander zu hören – mit tauben Ohren für die Populist:innen, die schon viel zu lange, viel zu laut herumschreien. Denn am Ende sind sie es, die von der Zerrissenheit profitieren.

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