Als Kind hat Martin Wolkner nette Weihnachten gehabt. Bis sich seine Eltern trennten. Da war er acht Jahre alt. "Danach war es eigentlich immer nur ein Hickhack, ein Hin und Her." Aus dem "Besuchs-Marathon" zog er sich immer mehr zurück. Dass er schwul war, war eigentlich kein Problem, zumal er ohnehin solo erschien. Doch später gab es Reibungspunkte mit seinem Bruder.
Der wollte seine Kinder vor dem Thema Homosexualität "schützen". "Damit sollten sie sich beschäftigen, wenn sie erwachsen sind", erzählt Martin im Gespräch mit watson. Das war für ihn "ein Affront gegen mich persönlich – dementsprechend habe ich mich dann von meinem Bruder distanziert".
Weihnachten habe er seitdem kaum mehr mit seiner Familie verbracht. "Ich habe auch viele Jahre ganz allein zu Hause gesessen", sagt der Dortmunder, der als Veranstalter tätig ist.
Manchmal auch bei seinen queeren Freund:innen in Köln: An Heiligabend kam die "chosen family", also die selbst ausgewählte Familie zusammen. "Einer hat Apfelstrudel gebacken, andere Kekse mitgebracht – einfach ein schönes Zusammenkommen". Doch das gemeinsame Feiern mit der Wahlfamilie sei seit einigen Jahren eingeschlafen.
Ihm ist bewusst, dass es so manchen Queeren noch immer ähnlich ergeht wie ihm: Mit der Familie feiern ist zu belastend oder nicht möglich – viele wollen die Feiertage dennoch nicht allein sein. In Dortmund bietet er deshalb ein queeres Weihnachtscafé an.
Am zweiten Feiertag können Queere im KCR Dortmund, nach eigenen Angaben dem am längsten bestehenden queeren Zentrum Deutschlands, zusammenkommen. Damit richtet er sich auch konkret an "queere Menschen, die zu Weihnachten nicht unbedingt zur Familie gehen oder vielleicht auch sonst einsam sind" – und davon gibt aus eigener Erfahrung so einige.
Gedichte, eine schwule Weihnachtskomödie und eine offene Bühne für alle. Das queere Kulturzentrum KCR fungiere eben als "Safespace", einem geschützten Raum für queere Menschen. Da müssten sie sich nicht ständig erklären – eine gewisse "Awareness" bestehe dort, also ein Bewusstsein über Diskriminierungsformen und das Bedürfnis nach sensibler Sprache.
Wie wichtig dieser "Safespace" ist, weiß auch Leni Bolt. Deutschlandweit bekanntgeworden ist Leni durch die Netflix-Serie "Queer Eye: Germany". Auch Leni hat schlechte Erlebnisse in der Heimat gemacht. Auf dem Weihnachtsmarkt in Soest traf Leni auf ehemalige Mitschüler:innen: "Die haben ständig meinen Deadname verwendet", sagt Leni gegenüber watson. "Das ist immer wieder verletzend. Ich bin nicht-binär und trans und bin schon seit vielen Jahren mit meinem neuen Namen, Leni, bekannt."
Es werde vermutlich auch wieder passieren. Leni sagt sich deshalb: "Hey, nimm das nicht so persönlich. Die Leute haben einfach nicht das Verständnis dafür. Sie wissen nicht, dass sie dich mit ihrem Verhalten verletzen." Doch einfach so hinnehmen komme auch nicht infrage: "Ich gehe aber auch in die Konfrontation und sage 'Das geht nicht! Ihr kennt meinen neuen Namen und meinen Deadname möchte ich nicht mehr hören'."
Vielen nicht-queeren Menschen sei es gar nicht bewusst, was die Weihnachtszeit für queere Menschen bedeuten kann: diskriminierende Erfahrungen, die man von Familienmitgliedern oder von alten Schulfreund:innen erfahre. "Da würde ich mir ein bisschen mehr Awareness wünschen. Die Leute sollten noch besser verstehen, dass die Weihnachtszeit nicht für jeden Menschen absolute Freude und Besinnlichkeit bedeuten muss."
Für queere Menschen kann Weihnachten aufwühlend sein, oder ein sehr bedrückendes Gefühl bedeuten, wenn schlechte Erfahrungen aus der Vergangenheit wieder hochkommen. "Eine negative Ausprägung, die man vielleicht verspürt, wenn man weiß, es kommt wieder die Konfrontation mit Menschen, die mich nicht verstehen."
Auch von Menschen aus der Vergangenheit, mit denen man abgeschlossen habe. "Und das kann sehr kräfteraubend sein." Leni führt weiter aus: "Ich war relativ früh sehr offen mit meiner Identität, ich habe sie nicht versteckt. Damals hat meine Familie nach außen hin versucht, meine Identität zu verstecken, was mich sehr verletzt hat."
In kleinen Orten werde viel getuschelt und geredet. Für Menschen, die ihre Identität verstecken müssten, sei es "noch einmal viel härter, weil sie einfach nicht komplett sie selbst sein können". Dass sie nach drei Tagen Weihnachtsbesuch "wieder so schnell wie möglich in den eigenen Safespace flüchten möchten, ist mehr als einleuchtend". Einen solchen Ort der Sicherheit hat sich Leni in Berlin geschaffen. "Dort habe ich mir meine 'chosen family' gesucht, meine queere Family."
Sie teilten ähnliche Erfahrungen und konnten sich darüber austauschen. "Es gibt auf jeden Fall Kraft, sich Menschen zu suchen, mit denen man relaten kann, und es kann sehr heilsam sein." Und noch feiern einige von ihnen in Berlin in ihren queeren Kreisen Weihnachten zusammen, statt zur Familie zu fahren. Das kann Leni gut nachvollziehen.
Leni sagt:
Nach zehn Jahren in Berlin zog es Leni dann nach Mallorca. "Hier habe ich tatsächlich nicht den queeren Freund:innenkreis. Allerdings fühle ich mich so gefestigt in meiner Identität, dass ich jetzt gar nicht mehr explizit nach einem Safespace suche. Ich lasse die Menschen nun ganz natürlich in mein Leben kommen."
Leni feiert Weihnachten mit der Familie – und freut sich auch schon sehr darauf. "Wir hatten ein paar Jahre, wo ich mich nicht so verstanden gefühlt habe." Das sei aber überstanden. Nicht zuletzt auch durch Lenis aktive Bereitschaft, sich darauf einzulassen.
Eine Gemeinsamkeit, die Leni mit Tim Scheidereit teilt. Der 37-Jährige lebt in Dublin und ist über Weihnachten zu Besuch bei seiner Familie im Ruhrgebiet. Die Feiertage seien für ihn "immer ein zweischneidiges Schwert."
Der Programm-Manager sagt:
Die meisten kämen von überall in die irische Hauptstadt und "haben nicht die Möglichkeit, mit ihrer Familie die Ferientage in deren Heimat zu verbringen". Auch weil "diese wunderbaren Menschen", seine Freund:innen aus Brasilien, Nigeria oder Indien, "auf Grundlage von Religion und Vorurteilen aus eben diesen Familien" verbannt worden seien.
Weihnachten sei für ihn auch eine Möglichkeit, "sich vor Augen zu führen, wie wichtig es ist, dass sich queere Menschen gegenseitig unterstützen und ermutigen, so zu sein wie wir sind". Schlussendlich seien sie "eine große bunte Familie", deren Mitglieder "irgendeine Art von Diskriminierung miterlebt haben und einfach genauso glücklich sein wollen, wie alle anderen auch", sagt er und wünscht auf Irisch: "Nollaig Shona" – Frohe Weihnachten.