Die einen etablieren sogenannte LGBT-ideologiefreie Zonen, die anderen verbieten Bücher, die über Homosexualität aufklären: In Europa hält queerfeindliche Politik wieder Einzug.
Damit sind Polen und Ungarn gemeint. Jetzt zeigt sich auch Serbien queerfeindlich: Der serbische Präsident Aleksandar Vučić will die Euro-Pride in der Hauptstadt Belgrad absagen.
Es wäre erneut ein Rückschlag für die queere Community.
Die NGO "European Pride Organisers Association" (EPOA) veranstaltet die Euro-Pride, eine Paradedemonstration, die Sichtbarkeit für die LGBT-Community schaffen soll. Eine Absage will sie nicht auf sich sitzen lassen. Das bestätigte sie auch gegenüber watson. Selbst wenn die serbische Regierung sich entschließe, die Parade am 17. September zu untersagen, würde die Organisation diese Entscheidung gerichtlich anfechten.
Vučić begründet diesen Schritt mit wirtschaftlichen Problemen seines Landes, aber auch mit Sicherheitsbedenken: Offenbar habe es Drohungen von rechts gegen die Demonstration für die Rechte queerer Menschen gegeben. Zu gefährlich – meint zumindest Vučić.
Bislang ist weder die Parade, noch die Pride als Ganzes untersagt. Serbiens Präsident Vučić hat die "Absage", im Einvernehmen mit der Regierungschefin Ana Brnabić, entschieden. Pikant daran: Premierministerin Brnabić ist die erste lesbische Regierungschefin ihres Landes und galt als Unterstützerin queerer Belange.
Sie hatte im Jahr 2017 als erste Regierungschefin an einer Pride-Demonstration teilgenommen.
"Es gibt in Europa eine ganze Reihe Politiker:innen, die sich queerfeindlich verhalten, obwohl sie selbst beispielsweise lesbisch, schwul oder trans* sind", sagt Hannah Engelmann-Gith gegenüber watson. Sie ist Referentin für Gender Diversity, hat 2019 ein Buch zu anti-queerer Ideologie geschrieben und forscht dazu in ihrer Doktorarbeit. Engelmann-Gith fährt fort: "Alice Weidel wäre da das prominenteste Beispiel aus Deutschland."
Queere Menschen ließen sich nicht auf ihre Sexualität oder ihr Geschlecht reduzieren, sondern hätten "davon unabhängig politische Haltungen und Interessen – queere Solidarität ist dabei kein Naturgesetz." Und bei anti-queerer Ideologie gehe es nicht so sehr um einzelne Menschen, sondern um eine gesellschaftliche Ordnung.
Engelmann-Gith sagt:
Engelmann-Gith stuft anti-queere Bestrebungen in der Politik in zwei Punkten als bedrohlich ein: "Der eine ist, dass queere Lebensweisen gern als dekadent dargestellt werden, als ein unnötiger Luxus." Das Argument des serbischen Präsidenten Vučić die Euro-Pride aus wirtschaftlichen Gründen abzusagen, zeige das sehr anschaulich.
Es solle Ballast abgeworfen werden, weil die Gesellschaft sich diesen "Luxus" angeblich nicht mehr leisten könne. Laut Engelmann-Gith gehe das aber vorbei an den Realitäten der Queeren-Community. Diese sei überdurchschnittlich oft prekär beschäftigt und erlebe ihre Art zu lieben und zu leben weder als unnötig noch als Luxus.
Engelmann-Gith zieht daraus als Folge:
Da bestehe das Interesse konservativer bis rechtsextremer Kreise in Serbien und einigen anderen Ländern in Osteuropa, diese anti-queere Politik zu betreiben. Queere Theorien und Kunstformen könnten konservativ eingestellten Menschen Unbehagen auslösen oder gar unheimlich sein.
Engelmann-Gith erklärt das an einem Gedankengang:
Anti-queere Ideologie sei ein Angebot, "alles, was 'anders' ist, einer vermeintlich klar definierten Minderheit zuzuschieben und sich selbst als restlos 'normal' darzustellen." Und das sei für einige Menschen sehr attraktiv. Denn so ließen sich Menschen politisieren.
In Deutschland gebe es viele offene Baustellen, die sich derzeit größtenteils in eine gute Richtung entwickeln, so Engelmann-Gith. "Das ist aber keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Erfolg beharrlicher sozialer Bewegungen, die auch immer wieder angegriffen werden." Noch grundsätzlicher fügt sie an, dass es keine prinzipiell queer-freundlicheren oder queer-feindlicheren Bevölkerungen gebe – die Lage sei eher dynamisch und verändere sich.
In einigen Ländern konnten Politiker:innen mit anti-queerer Ideologie politisches Kapital schlagen.
Engelmann-Gith sagt:
Anti-queere Ideologie eigneten sich besonders gut, um Ressentiments zu bündeln, sagt Engelmann-Gith. "Sogar politische und religiöse Gruppen, die sonst miteinander konkurrieren, können sich auf Queer-Feindlichkeit als gemeinsamen Nenner einigen." Diese seien in diesem Punkt auch sehr gut miteinander vernetzt und kooperieren miteinander – auch über Ländergrenzen hinweg.
Engelmann-Gith sagt:
Schreckgespenster, die als Argumente dienten, seien seit jeher rechte Taktik. Engelmann-Gith führt aus: "Das geht von der Verschandelung von Sitte und Anstand über die vermeintliche 'Sexualisierung' von Kindern bis zum Untergang des Abendlands." Das seien klassische Sündenbockgeschichten.
Anti-queere Agenda komme oft vermeintlich harmlos daher, als Schutz der Familie und der Kinder, als Betonung von Tradition. Und, gerade im deutschsprachigen Raum, mit der Ablehnung des Genderns. Im europäischen Vergleich zeige sich außerdem, dass anti-queere Ideologie regelmäßig einhergehe mit Frauenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus, erklärt die Expertin.
Engelmann-Gith unterstreicht, dass anti-queere Strömungen die ganze Gesellschaft etwas angeht. Dahinter verberge sich eine rigide Sozialpolitik mit "desaströsen Folgen" für die Mehrheit der Menschen.
Es sei auch kein Zufall, dass autoritäre Staatsführer wie Wladimir Putin in Russland anti-queere Ideologien vorantrieben: "Wir dürfen daher nicht den Fehler machen, den Kampf gegen Queerfeindlichkeit für eine Minderheitenfrage zu halten." Menschenfeindlichkeit, auch wenn es vordergründig nur eine Gruppe herauspicke, geht "uns alle an, weil hier ganz grundsätzliche Fragen unserer Gesellschaftsordnung ausgehandelt werden."