Was sich 1938 in der Nacht vom 9. auf den 10. November in Deutschland ereignet hat, gilt heute als offizielles Signal zum Holocaust, der systematischen Vernichtung von Jüd:innen durch die Nazis. In der sogenannten Reichspogromnacht – früher "Reichskristallnacht" – zerstörten Schlägertrupps des NS-Staats Synagogen und jüdische Geschäfte und töteten mehr als 1300 Jüd:innen.
85 Jahre später schüren die vielen antisemitischen Vorfälle in Deutschland seit dem Angriff der Hamas auf Israel bei Menschen jüdischen Glaubens große Ängste. Als Unbekannte Davidsterne auf Häuser jüdischer Berliner:innen malten, fühlten sich viele an das öffentliche Markieren der NS-Zeit erinnert. Nach einem versuchten Brandanschlag Mitte Oktober auf eine Synagoge in Berlin-Mitte sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Gideon Joffe:
Vor dem Jahrestag ist die Pogromnacht so präsent wie lange nicht mehr. Im Folgenden erfährst du, was genau damals passiert ist, wie vergleichbar die Situation aktuell ist und warum der Begriff "Reichskristallnacht" unangebracht ist.
Die Gewaltwelle hatte sich lange angebahnt. Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung von Jüd:innen begann sofort nach der Machtübernahme der Nazis 1933. Offizieller Anlass war dann das Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftsrat Ernst Eduard vom Rath in Paris am 7. November.
Hintergrund dieser Tat wiederum war die Deportation von 17.000 polnischen Jüd:innen an die deutsch-polnische Grenze, darunter Grynszpans Eltern. Vom Rath starb am 9. November an seinen Verletzungen. Die Spitze der NSDAP – die sich in München in Erinnerung an den gescheiterten Hitler-Putsch vom 9. November 1923 versammelt hatte – gab daraufhin das Startsignal zur Reichspogromnacht.
"Aufgrund des Attentats in Paris sind im Laufe der heutigen Nacht – 9./10.11.38 – im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten", schrieb der SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich unter der Dachzeile "Blitz, dringend, sofort vorlegen!" per Telegram an alle Dienststellen.
Der SS-Mann gab detaillierte Anweisungen, nach welchen Regeln diese sogenannten Demonstrationen ablaufen sollten, "zum Beispiel Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist" und "Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden".
Würden diese Vorgaben eingehalten, seien "die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern, sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen". In der Folge wurden nach Angaben des Deutschen Historischen Museums mehr als 1300 Menschen getötet, 1400 Synagogen demoliert, 7000 Geschäfte überfallen und 30.000 Jüd:innen in Konzentrationslager verschleppt.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat sich bestürzt über die aktuelle Lage im Land geäußert. "Was wir seit dem 7. Oktober sehen, ist Judenhass auf einem in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr dagewesenen Niveau", sagte er am Dienstag in Berlin mit Blick auf antisemitische Vorfälle etwa bei Demonstrationen nach dem Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel.
Klein kritisierte, Deutschland habe sich zu lange ausgeruht und selbst gelobt für seine Erinnerungskultur. Wissen über den Holocaust müsse immer wieder neu erarbeitet werden. "Jüdinnen und Juden in Deutschland befinden sich seit einem Monat im Ausnahmezustand", sagte Klein mit Blick auf die aktuelle Situation.
Er versicherte mit Blick auf das Jahr 1938 aber auch: "Das Gift des Antisemitismus existiert zwar noch immer, es zeigt sich gerade jetzt besonders stark. Aber im Jahr 2023 leben wir in einer gefestigten Demokratie, mit einem Rechtsstaat, der sich schützt und verteidigt."
Auch Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich besorgt vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht. Sie erläuterte, es biete sich 85 Jahre danach ein zwiespältiges Bild. "Es gibt in Deutschland wieder blühendes Leben, und zugleich erleben wir einen besorgniserregenden Antisemitismus, der jüdisches Leben in unserem Land und anderen sicher geglaubten Orten der Welt bedroht." Er entlade sich zunehmend offen in Hetze im Internet wie allgemein im öffentlichen Raum.
Umgangssprachlich ist auch heute häufig noch von der "Reichskristallnacht" die Rede. Der Begriff spielte auf die zerstörten Fensterscheiben der jüdischen Geschäfte an und gilt heutzutage als verharmlosend und euphemistisch.
Schon seit Ende der 1970er-Jahre setzten sich deshalb zunehmend die Alternativbegriffe "Reichspogromnacht" oder "Novemberpogrome" durch. Im englischen Sprachgebrauch ist "Crystal Night" zwar durchaus noch gebräuchlich, Historiker:innen hierzulande lehnen das deutsche Pendant aber als unangebracht ab.
(mit Material von dpa und afp)