Jede weitere Krise, die den Westen von der Ukraine ablenkt, ist wohl dem russischen Präsidenten Wladimir Putin willkommen. Bild: Pool Sputnik Kremlin / Vyacheslav Prokofyev
Analyse
22.11.2023, 19:3823.11.2023, 11:13
Erst Israel, als nächstes der Balkan? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist sich sicher, Russland plane die Destabilisierung des Balkans – als weitere Ablenkung des Westens vom Krieg in der Ukraine.
Seit mehr als 20 Monaten wehrt sich das Land gegen den aggressiven Angriffskrieg Russlands. Ohne die militärische Unterstützung von etwa der Nato und aus den USA könnten Selenskyj und sein Volk dem Ansturm nicht Stand halten. Seit dem brutalen Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober teilt die Ukraine nun die mediale Aufmerksamkeit mit dem Nahostkrieg.
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Expert:innen sorgen sich, dass der Krieg Israels gegen die Terrorgruppe Hamas auch Einfluss auf die Militärhilfe für die Ukraine nehmen könnte. Bereits jetzt kritisieren viele US-Republikaner, vor allem die Trump-Verbündeten, die Ukraine-Unterstützung. Mit jedem weiteren Konflikt, der aus dem Boden schießt, könnte demnach der Fokus auf die Ukraine weiter schwinden. Laut Selenskyj weiß das auch der Kreml-Chef Wladimir Putin.
Selenskyj fürchtet Balkan-Chaos wegen Putin
"Achten Sie auf den Balkan", warnt der ukrainische Präsident seine Partner bei einer Medienkonferenz. Ihm zufolge strebt Russland auch dort einen Krieg an, "um für Ablenkung zu sorgen". Die Ukraine habe Beweise für die Absicht Russlands, einen Konflikt zwischen Balkanländern auszulösen, betont er. Selenskyj fügt hinzu: "Glauben Sie mir, wir erhalten Informationen. Russland hat einen langfristigen Plan."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj befürchtet eine nächste Eskalation im Balkan.Bild: Ukrainian Presidential Press Off / Uncredited
Allerdings liefert er keine Beweise, daher erscheine diese Vermutung schon etwas spekulativ, meint Politologe Florian Bieber auf watson-Anfrage. Er ist Autor des Buches "Pulverfass Balkan" und Professor für Geschichte und Politik Südosteuropas an der Universität Graz.
Laut des Balkan-Experten hält Putin nicht genügend die Zügel in den Händen, um einen Krieg in der Region anzuzetteln.
Putin kann Spannungen befeuern, aber nicht steuern
"Russland arbeitet auf dem Balkan mit lokalen Politikern zusammen, gerade in Serbien, Bosnien und Montenegro. Aber es kann diese nicht 'steuern' oder einen Konflikt von sich aus hervorrufen", sagt Bieber. Er führt aus: Wenn lokale Politiker wie der serbische Präsident Aleksandar Vučić ein Interesse an Spannungen im Kosovo hat, zündelt er dort.
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić hat einen guten Draht zum Kreml-Chef Wladimir Putin.Bild: AP / Darko Vojinovic
Das erfreue Russland und es könne Vučić ermutigen, aber den Konflikt nicht verursachen. Dennoch sollte Selenskyjs Äußerung ernst genommen werden, sagt Balkan-Experte Konrad Clewing auf watson-Anfrage. Er forscht am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.
"Die ukrainische Seite ist nachrichtendienstlich über die Vorgänge russischerseits vermutlich besser informiert als so mancher westlicher Akteur – speziell auch, was die Aktivitäten der russischen Geheimdienste angeht", meint Clewing. Russland ist laut ihm unübersehbar im serbischen Umfeld auf dem Balkan sehr aktiv.
Geostrategisch sei richtig, dass Russland Interesse hat, die Position des Westens möglichst überall zu schwächen und damit die Unterstützung für die Ukraine. "Das gilt auf jeden Fall auch für den Balkan, und eigentlich für ganz Südosteuropa", sagt er. Ob jedoch eine große "Explosion" das Ziel ist, scheint ihm fraglich. Angesichts der Kräfteverhältnisse auf dem Westbalkan gehe es wohl eher um allgemeine Destabilisierung und punktuelle Gewalteskalation.
Die Experten sind sich einig: Großes Konfliktpotenzial bietet etwa der Streit um die Republika Srpska (RS), die serbische Entität von Bosnien und Herzegowina. Dazu kommt der anhaltende Konflikt zwischen Serbien und Kosovo.
Clewing sagt dazu:
"Die politische Führung der bosnischen Republika Srpska will deren Abspaltung und Vereinigung mit Serbien. Und Serbien will die Ergebnisse des verlorenen Kriegs von 1998/99 revidieren und Kosovo möglichst weitgehend wieder unter seine Herrschaft führen."
Auf dem Westbalkan liege damit der eine und fast einzige russische Hebel zur Herbeiführung einer großen "Explosion" in Serbien. Auch die nationale Eigenständigkeit des Nato-Mitglieds Montenegro werde durch Serbien im Rahmen seiner Möglichkeiten untergraben, sagt Clewing. Vor diesem Hintergrund genieße Putins Russland als antiwestliche und ebenfalls revisionistische Macht im nationalistischen Milieu unter den Serben hohe Popularität.
Serbiens pflegt enge Verbindung zu Russland
Clewing zufolge hat Russland Einfluss in Serbien einerseits politisch-diplomatisch, und andererseits auf geheimdienstlicher Ebene, "die dort viel wichtiger ist, als man es sich in Deutschland vorstellen kann". Demnach werfe ein russischer Stützpunkt in Südserbien Fragen auf.
Angeblich diene er der Zusammenarbeit auf dem Feld des "Zivilschutzes". "Er hat aber über die Jahre seiner Existenz hinweg derart wenig an Zivilschutzaktivitäten vorzuweisen, dass man die Haupttätigkeit seiner Belegschaft mit Fug und Recht beim Nachrichtendienst verorten darf", sagt Clewing.
Daher vermutet der Experte, dass der russische Auslandsgeheimdienst (SWR) wohl von der tödlichen paramilitärischen Attacke in Banjska Ende September in Nordkosovo wusste und involviert war. Damals kämpften serbische Paramilitärs gegen die kosovarische Polizei. Clewing führt aus:
"Mutmaßliches gemeinsames Ziel war, im Anschluss an eine kosovarische Gegenaktion einen serbischen Militäreinmarsch im Nordkosovo zu begründen. Im serbischen Szenario sollte dieser Einmarsch aber sicher zu keiner großen Konfrontation mit der im Kosovo stationierten Nato-Truppe führen, anders vermutlich als von russischer Seite gewollt."
In dem fast ausschließlich von Serben bewohnten Nordkosovo drang eine militärisch ausgerüstete Kampftruppe ein.Bild: KOSOVO POLICE/AP
Dieser Vorfall zeige etwa, dass Russland die Mittel für eine große Explosion auf dem Balkan fehlen. Vielmehr sollen die politische Stabilität der Region und die dortige und allgemeine Machtposition des Westens untergraben werden.
Nur Kosovo, Serbien und Bosnien und Herzegowina sind keine Nato-Mitglieder, "sodass die Möglichkeiten für einen Konflikt stark eingeschränkt sind, ohne dass die Nato direkt angegriffen wäre", meint Bieber. Zudem stehen Bosnien und Kosovo unter dem Schutz einer internationalen Friedenstruppe.
Wenn also Serbien in beiden Ländern eingreifen würde, wäre es Bieber zufolge ein Konflikt mit der Nato. Dann ginge es um die Glaubwürdigkeit des internationalen Militärbündnisses.
Nato wäre im Falle einer Eskalation wohl nicht gut vorbereitet
Jedes nicht-Eingreifen würde auch Russland ermutigen, führt Bieber aus. Demnach wurde die Militärpräsenz laut ihm auch schon erhöht. Aber am Ende halte er einen Krieg zwischen Serbien und Kosovo für sehr unwahrscheinlich. Sehr viel realistischer seien kleine Zwischenfälle, wie es sie im September im Nordkosovo gab.
"Diese wären keine zwischenstaatlichen Konflikte und Serbien könnte sich leichter aus der Verantwortung ziehen", sagt Bieber. Deshalb sei es umso wichtiger, jedem Versuch, mit solchen Konflikten zu spielen, ein Riegel vorzuschieben. Hierfür müsse die Nato und EU auch Vučić klare Grenzen aufzeichnen.
Denn auf eine großflächige Eskalation wäre die Nato in der Region kurzfristig nicht besonders gut vorbereitet, warnt Clewing.
Derzeit habe die Nato etwa 5500 Soldat:innen unter ihrem Kommando im Kosovo, wovon der größere Teil gar nicht kampftauglich sei. In Bosnien-Herzegowina sind die dort EU-geführten westlichen Verbände laut Clewing noch viel schwächer. Bosnien wäre insofern noch vor Kosovo die verwundbarste Flanke der westlichen Präsenz.
Nicht von ungefähr nehme auch der Westen die Warnung Selenskyjs ernst. "So hat inzwischen das US-State Department nachträglich verdeutlicht, dass die am 16. November gegen ein Dutzend russlandnaher serbischer und nordmazedonischer Akteure und Firmen verhängten Finanzsanktionen genau auf der Linie von Selenskyjs Warnung stünden", sagt Clewing.
Zweck der US-Sanktionen sei es, Strukturen an der Schnittstelle von russischem Einfluss und politisch-ökonomischer Korruption auf dem Balkan zu schwächen.