International
Analyse

Nahostkrieg: Wie sehr Israel noch hinter Benjamin Netanjahu steht

A banner depicting Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu is seenn during a protest against his far-right government, in Tel Aviv, Israel, Saturday, Jan. 21, 2023. Last week, tens of thousands of I ...
In Israel protestieren Menschen gegen Regierungschef Benjamin Netanjahu.Bild: AP / Tsafrir Abayov
Analyse

Nahostkrieg: Wie sehr Israel noch hinter Netanjahu steht

30.01.2024, 07:58
Mehr «International»

"Liar, Liar, Israel's on Fire" – Lügner, Lügner, Israel steht in Flammen, heißt es auf einem Plakat. Tausende Menschen protestieren in den Städten Israels. Ihre Angst und Wut richtet sich auch gegen ihren Regierungschef Benjamin Netanjahu.

Die Forderung der Demonstrierenden: ein sofortiges Ende des Krieges und eine Rückkehr der von der Terrororganisation Hamas festgehaltenen Geiseln. Auch die Forderung nach Neuwahlen fällt. Nicht jede:r im Land begrüßt offenbar den scharfen Kurs, mit dem Netanjahu gegen die Hamas vorgeht. Auch international wächst der Druck.

Watson ist jetzt auf Whatsapp
Jetzt auf Whatsapp und Instagram: dein watson-Update! Wir versorgen dich hier auf Whatsapp mit den watson-Highlights des Tages. Nur einmal pro Tag – kein Spam, kein Blabla, nur sieben Links. Versprochen! Du möchtest lieber auf Instagram informiert werden? Hier findest du unseren Broadcast-Channel.

Laut US-Präsident Joe Biden ist eine Zweistaatenlösung unter Netanjahu nicht ausgeschlossen, auch die UN und Frankreich sprechen sich für einen Palästinenserstaat aus. Die Fragen danach, wie dünn das Eis ist, auf dem Netanjahu sich bewegt und ob er den Krieg gegen die Hamas politisch überlebt, werden lauter.

Netanjahu verlor an Zuspruch nach der Hamas-Attacke

"Netanjahu hatte immer einen starken Kern von Anhängern, die stets hinter ihm standen, egal was passierte", sagt Israeli Josua* im watson-Gespräch. Er lebt in Israel und war vor Ort, als am 7. Oktober 2023 die Hamas-Terroristen ein Massaker verübten.

Palestinians transport a captured Israeli civilian from Kfar Azza kibbutz into the Gaza Strip on Saturday, Oct. 7, 2023. The militant Hamas rulers of the Gaza Strip carried out an unprecedented, multi ...
Während des Hamas-Überfalls wurden Israelis in den Gazastreifen entführt – darunter auch Babys und Ältere.Bild: AP / Hatem Ali

Laut ihm brach der Zuspruch für Netanjahu nach der Hamas-Attacke definitiv ein. "Hätte es hypothetisch drei Tage nach dem Überfall Wahlen gegeben, hätte Netanjahu in der israelischen Bevölkerung wahrscheinlich viel weniger Unterstützung erhalten, als er es gewohnt ist", meint Josua.

Doch mit dem Fortschreiten des Krieges kehren laut des Israelis einige seiner verlorenen Unterstützenden zu ihm zurück. Er habe das Gefühl, dass sich Netanjahus politische Lage stabilisiert. Unklar sei aber, wie seine Kolleg:innen von der Rechten wirklich über ihn denken.

Josua sagt:

"Die Rechte versucht, nicht zu sehr über Schuld und Verantwortung zu sprechen, weil sie an der Macht war, als es passierte, und ich vermute, dass sie sich politisch darauf konzentriert, ihre Position nach dem 7. Oktober zu verbessern."

Dennoch geht er davon aus, dass man auch mehr Stimmen gegen Netanjahu von den rechten Politiker:innen hören werde, wenn die nächsten Wahlen anstehen. Die Linke hingegen gebe Netanjahu (größtenteils) die Schuld, immer mehr würden zudem Vorwahlen fordern.

"Dabei ist die Regierung erst seit einem Jahr im Amt, und niemand weiß wirklich, was in naher Zukunft passieren wird", sagt Josua. Die politische Stimmung war schon vor dem 7. Oktober aufgrund der Proteste gegen die Justizreform in Israel aufgeladen.

Zum Hintergrund: Durch die Justizreform soll der Einfluss des höchsten Gerichts beschnitten und die Machtposition der Regierung gestärkt werden – zulasten der unabhängigen Justiz. Nun sei die Lage noch surrealer, meint er. Laut Politikwissenschaftler Heinz Gärtner sitzt Netanjahu an sich aber recht sicher im Sattel.

Netanjahu – der "politische Zauberer"

"Solange der Krieg gegen die Hamas anhält, ist seine Position nicht gefährdet" meint Gärtner im Gespräch mit watson. Er ist Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) und am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien tätig.

FILE - A protester wears a shirt depicting Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu attempt during a demonstration to demand the release of the hostages taken by Hamas militants into the Gaza Strip d ...
Trotz Protesten gegen Netanjahu habe er wohl nichts zu befürchten.Bild: AP / Leo Correa

Laut Gärtner droht Netanjahu trotz der Kritik keine Absetzung. Es könnte durchaus zu Neuwahlen nach dem Krieg kommen – "aber wann ist das schon?" Selbst wenn es heute Wahlen in Israel gäbe und Netanjahu verlöre, werde seine Politik wohl fortgesetzt. Gärtner zufolge gibt es kaum Politiker:innen, die sich für die Zweistaatenlösung einsetzen.

Nach Josuas Meinung sollte kein Premierminister – ob links oder rechts – nach so etwas wie am 7. Oktober an der Macht bleiben. "Das Mindeste wären vorgezogene Neuwahlen, um das Volk erneut entscheiden zu lassen, denn ich bin sicher, dass sich einige Meinungen drastisch geändert haben", sagt er. Wenn mehr Politiker:innen aus Netanjahus Partei antreten würden, könnte es eine große Veränderung geben. Doch all das seien Spekulationen, am Ende ist bei Netanjahu wohl alles möglich.

"Man kann ihn hassen oder lieben, aber es steht außer Frage, dass er ein politischer Zauberer ist. Wenn jemand die Fähigkeit hat, diese Situation politisch zu überwinden, dann ist er es", meint der Israeli. Laut Gärtner beherrscht Netanjahu die Kunst aller Mechanismen der Politik, das könnte ihm dazu verhelfen, noch lange an der Macht zu bleiben. Daran werden wohl auch die USA nicht rütteln können.

USA: Biden wird sich mit Netanjahu nicht anlegen

Biden tritt erneut als Präsidentschaftskandidat der Demokraten 2024 an. Er muss die US-Wahl erneut gewinnen, allerdings brachen ihm die Umfragewerte ein, da gerade junge und muslimische US-Amerikaner:innen das Leid in Gaza verurteilen. Laut UN sind Frauen und Kinder mit 16.000 Toten die Hauptopfer des Krieges. Und doch unterstützen die USA Israel bedingungslos.

A Palestinian woman cries as she sits next to her girl wounded in the Israeli bombardment of the Gaza Strip while receiving treatment at the Nasser hospital in Khan Younis, Southern Gaza Strip, Monday ...
Vor allem Frauen und Kinder leiden unter dem Krieg zwischen der Hamas und Israel.Bild: AP / Mohammed Dahman

"Biden wird keine direkte Konfrontation mit Netanjahu eingehen", sagt Gärtner. Also habe er auch hier politisch nichts zu befürchten. Im Gegenteil: Würde Biden Sanktionen gegen Israel verhängen oder die Waffenlieferungen einstellen, hätte das für ihn viel dramatischere Folgen. "Der US-Kongress steht mehrheitlich auf der Seite Israels, auch hat die israelische Lobby einen enormen Einfluss", sagt der Politikwissenschaftler.

Laut Gärtner würde Netanjahu ganz schnell im Kongress stehen und gegen Biden austeilen, sollte er es wagen, sich mit ihm anzulegen. "Bereits gegen den ehemaligen Präsidenten Barack Obama teilte Netanjahu 2016 aus, als es um den Atomdeal mit Israels Erzfeind Iran ging."

Demnach kann sich Netanjahu erlauben, die Forderungen der Biden-Regierung zu ignorieren. Sollte Biden verlieren und Donald Trump 2024 ins Weiße Haus zurückkehren, würde sich Netanjahus Position stärken, meint Gärtner. In einer Trump-Netanjahu-Konstellation sehe er auch ein höheres Potential für eine Eskalation mit dem Iran.

"Denn für Netanjahu gehört eines zu seinen Hauptzielen dazu: Die Schwächung des Hauptfeindes Iran. Das andere wäre, die palästinensische Frage ein für alle Mal zu lösen", sagt Gärtner. Dazu muss die Hamas vernichtet werden – offenbar ohne Rücksicht auf zivile Opfer, wie Kritiker:innen anprangern.

Nicht alle Israelis unterstützen Vorgehen Netanjahus in Gaza

Laut Josua unterstützt die große Mehrheit der Israelis im Allgemeinen die Auslöschung der Hamas. "Die Meinungsverschiedenheiten liegen in den Details, in der Art und Weise, wie wir es tun, und wie weit wir gehen dürfen", meint er. Israel sei weniger vorsichtig mit palästinensischen Opfern in der Zivilbevölkerung umgegangen als früher. "Das streitet wohl kaum jemand ab, aber nicht alles ist schwarz-weiß", betont Josua. Laut ihm wurden auch viele Anstrengungen unternommen, um unschuldige Opfer zu vermeiden.

Auch in Israel scheiden sich Josua zufolge die Geister:

"Einige Israelis sind der Meinung, dass es keinen Weg gibt, dies militärisch zu lösen, ohne zu viele unschuldige Menschen zu verletzen. Andere behaupten das Gegenteil – dass Israel viel zu viel tut, um die Palästinenser zu schützen, von denen viele selbst direkt oder indirekt von den Gräueltaten des 7. Oktobers betroffen sind."
Nahostkonflikt, Gaza, Eindrücke aus Nusairat nach israelischem Luftangriff Palestinians inspect destruction after an Israeli bombing of building in Nusairat Palestinians inspect destruction after an I ...
Durch Israels Luftangriffe werden viele Gebäude in Gaza zerstört. Bild: imago images / Naaman Omar

Am Ende wolle niemand einen Krieg, aber "das bedeutet, dass die Hamas innerhalb weniger Jahre wieder an die Macht kommen wird", sagt Josua. Er führt aus: Selten seien sich Linke und Rechte in Israel so einig gewesen, dass ein Frieden mit der Hamas an der Macht unmöglich ist.

Dennoch heißt das Josua zufolge nicht, dass es eine breite Unterstützung für die Regierung selbst gibt, die nach Ansicht vieler Israelis für das Problem verantwortlich ist und nicht Teil der Lösung sein kann. Laut Gärtner ist die Hamas eine Ideologie, die man mit Waffen nicht auslöschen kann. Im Gegenteil: "Durch das Blutbad in Gaza wächst bereits die nächste Generation an Hamas-Terroristen heran."

Transparenzhinweis: Josua heißt in Wirklichkeit anders und möchte anonym bleiben. Sein echter Name liegt der Redaktion vor.

Georgien und die Angst vor Russland: "Wir sind entweder Georgier oder Sklaven"

Emotionale Szenen aus dem georgischen Parlament gehen viral. Ein Abgeordneter will seine Rede halten und wird dabei von einem Mann angesprungen. Seine Faust trifft sein Gesicht. Darauf bricht ein Handgemenge aus, es fliegen die Fäuste zwischen mehreren Abgeordneten.

Zur Story