Die Hamas entführte seine Frau und drei Kinder: Avihai Brodutch teilt seine Geschichte mit zwei weiteren Israelis in Berlin bei einem Pressetermin.bild: Anika Nowak
Nah dran
16.11.2023, 15:1616.11.2023, 18:43
Es ist dieser leere Blick. Augen, die seit 40 Tagen zu viel geweint und zu wenig Schlaf bekommen haben. "Ich will einfach meine Familie zurück" – ein Satz, den die drei Israelis immer wieder sagen. Die Hamas hat ihre Kinder, Ehepartner und Enkel entführt. Mit einer israelischen Delegation sind sie nach Deutschland gereist, um ihre Geschichte zu erzählen.
Dazu kommen sie in der Akademie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung mit deutschen Pressevertreter:innen zusammen. Auch watson ist vor Ort und spricht etwa mit Avihai Brodutch abseits des Medientrubels über das endlose Warten, den Schmerz der Ungewissheit und das Vorgehen der israelischen Regierung.
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Hamas-Attacke: Drei Schicksale, ein und derselbe Schmerz
Die Stimmung im Raum ist gedrückt. Lediglich das Klicken der Kameras ist hier und da zu vernehmen, wenn die drei Israelis über den brutalen Hamas-Angriff am 7. Oktober berichten. Jede Geschichte ist auf ihre Weise schmerzhaft – und doch verbindet sie die drei Betroffenen.
Avihai Brodutch (l.), Batsheva Yahalomi Cohen (m.) und Gilad Korngold berichten über den Hamas-Angriff.bild: Anika Nowak
"Das war das letzte Mal, als ich meinen Sohn gesehen habe", sagt Batsheva Yahalomi Cohen. Ihre Stimme bricht, Tränen rollen über die hervorstehenden Wangenknochen der Frau. Mit der Hand verdeckt sie ihr Gesicht. Am Tag des Hamas-Angriffs überfielen Terroristen ihren Heimatort Nir Oz. Batsheva und ihre Familie suchten Zuflucht in ihrem Schutzraum, aber die Tür ließ sich nicht verriegeln. Von draußen hörten sie Schüsse und "Allahu Akbar"-Rufe, der Duft nach Rauch lag in der Luft. "Wir hatten solch eine Angst", sagt sie leise. In ihrem Gesicht ist die Angst vor dem Terror deutlich zu erkennen.
"Wir versuchten uns zu verstecken, aber es war nicht einfach mit einem 18-monatigen Baby", sagt sie. Nach zwei Stunden entschied sich ihr Mann Ohad den Raum von außen zu verschließen. Doch da kamen die Terroristen auch in ihr Haus.
Es kam zu einem erbitterten Kampf, wobei Ohad angeschossen wurde. Vier Männer in Uniform bahnten sich den Weg in den Schutzraum. "Komm, komm", sagten sie auf Englisch. Die Mutter forderte ihre Kinder auf, so laut wie möglich nach Hilfe zu schreien. Aber niemand kam, um sie zu retten.
Tränen einer Mutter. Batsheva Yahalomi Cohen weiß nicht, wie es ihrem acht-jährigen Sohn geht.bild: Anika Nowak
Hamas wollten Batsheva samt ihrer Kinder nach Gaza verschleppen
Mit vorgehaltener Waffe verließen sie den Schutzraum. "Draußen lag Ohad verletzt am Boden. Er sagte, dass er uns liebt und wir sollen mitgehen", sagt Batsheva unter Tränen. Sie, ihre zehnjährige Tochter und das Baby wurden auf ein Motorrad Richtung Gaza verschleppt, ihr Sohn Eitan folgte ihnen auf einem anderen.
Während der Fahrt kam es zu einem Zwischenfall mit zwei Panzern der israelischen Armee. Dadurch gelang Batsheva und ihren beiden jüngsten Kindern die Flucht, aber sie musste hilflos mitansehen, wie ihr Sohn weiter in Richtung Gazastreifen davon fuhr.
Sie blickt auf das Bild ihres Sohnes, das vor ihr auf einem A4-Papier liegt. "Es ist so hart für mich, darüber nachzudenken, dass er dort ohne mich ist. Kein Kind sollte ohne seine Mutter sein. Kein Kind sollte Teil dieses Krieges sein", sagt sie.
Batsheva Yahalomi Cohen hält das Bild ihres Sohnes hoch.bild: Anika Nowak
Ihr verletzter Mann wurde nicht mehr im Haus vorgefunden. Die Behörden nehmen an, dass auch er von der Hamas verschleppt worden ist.
Ein ähnliches schreckliches Schicksal teilt Gilad Korngold, dessen Sohn, Schwiegertochter und Enkelkinder sich vermutlich unter den Geiseln befinden.
Batsheva konnte ihre Tochter und das Baby retten, aber ihr Mann und ältester Sohn sind verschollen.bild / Batsheva Yahalomi Cohen
Wenn das eigene Kind und die Enkelkinder entführt werden
Wann immer er von seinen Enkeln spricht, kämpft er gegen die Tränen an. Sie sind drei und acht Jahre alt. "Wir müssen die Kinder dort rausholen", fordert Gilad. Unter ihnen seien Babys, ohne Nahrung und Medizin, Kinder – teils komplett allein im Untergrund mit Terroristen. "Stellen Sie sich das für eine Sekunde einmal vor", sagt er.
Die Familie seines Sohnes wurde von der Hamas entführt. Gilad Korngold fordert die Freilassung der Kinder. bild: Anika Nowak
"Als Großeltern machen wir immer viele Fotos von unseren Enkeln, aber kaum welche mit unseren eigenen Kindern", sagt der Israeli. Die Worte verschluckt er. Hier bricht ein seelischer Damm zusammen, die Tränen laufen über das Gesicht des älteren Mannes. Er habe kaum ein Foto von sich und seinem Sohn. Nun weiß er nicht, ob er noch am Leben ist.
Auch Avihai Brodutch wartet auf ein Lebenszeichen seiner Familie.
Die Enkeltochter von Gilad Korngold wurde am 7. Oktober von der Hamas entführt. bild: Gilad Korngold
Israel fokussiere sich zu sehr auf die Zerstörung der Hamas
"Anfangs habe ich noch immer meiner Frau geschrieben, doch jetzt habe ich es aufgeben", sagt Avihai im Gespräch mit watson. Er knetet seine Finger, ballt sie zu einer Faust, schwenkt mit dem Oberkörper auf dem Stuhl hin und her, dabei lehnt er sich weit nach vorn, als wollte er sich verkriechen.
Was geht in einem Mann vor, der nicht weiß, wie es seiner Frau und seinen drei Kindern geht? Das Jüngste ist vier Jahre alt.
Avihai im Gespräch mit watson. bild / Anne Hamilton
Hoffnung sei alles, was er habe. Was bleibe ihm anderes übrig? Die israelische Regierung unternehme nicht alles, was in ihrer Macht stehe, um die Geiseln zu befreien, meint er. Es seien schon 40 Tage. Sie sollten sich allein auf die Geiselbefreiung konzentrieren, stattdessen liege ihr Fokus auf der Zerstörung der Hamas.
Laut ihm sei es ein "verrückter Traum", die Hamas komplett auszulöschen. Die Regierung fokussiere sich auf etwas, das nicht erreichbar sei. Aber die Befreiung der Geiseln, vor allem der Kinder, sei durchaus realisierbar. "Nein, ich finde nicht, dass die Regierung genug unternimmt. Es sind 40 Tage", wiederholt er, "und sie sind nicht zurück!" Avihai spricht sonst leise und bedacht, doch hier hebt er die Stimme. Wut schwingt in den Worten mit.
Avihai vermisst seine Kinder. Hamas-Terroristen haben alle drei nach Gaza verschleppt. bild / Avihai Brodutch
"Die Regierung hat uns nicht beschützt", sagt er. Jetzt solle sie wenigstens seine Familie zurückholen.
Avihai wünscht sich endlich eine Lösung für den Nahostkonflikt
Am 7. Oktober traf es den Kibbuz von Avihai mit am schwersten. Hunderte bewaffnete Hamas-Terroristen überfielen seinen Heimatort Kfar Aza, der nur wenige Kilometer von Gaza entfernt liegt. Avihais Familie suchte Zuflucht im Schutzraum, während er sich hinauswagte, um zu helfen.
Auf der Straße lief ihm die Tochter seines Freundes entgegen. "Sie war mit Blut überströmt", erzählt er. Es sei das Blut ihres Vaters gewesen. "Ich schickte sie ins Haus zu meiner Frau Hagar in den Schutzraum", führt Avihai aus. Dort sollten sie auf Rettung warten. Doch die traf nie ein.
Wie es das Netz erlaubte, tauschte er sich mit seiner Frau über Textnachrichten aus. Dann schrieb sie: "Jemand dringt in das Haus ein." Das war die letzte Nachricht, die er von seiner Frau bekam. Später erfuhr er, dass seine Familie und die Tochter seines ermordeten Freundes nach Gaza verschleppt worden waren.
Avihai und seine Frau Hagar mit ihren drei Kindern Ofri (10), Yuval (8) und Oriya (4). bild: privat / Avihai Brodutch
"Ich vermisse sie so sehr", sagt er über seine Frau. Wieder dieser leere Blick. Schmerz, Wut und Müdigkeit von der Ungewissheit stehen ihm ins Gesicht geschrieben. "Menschen sterben auf beiden Seiten, darunter viele Kinder." Er will niemandem die Schuld zuweisen, auch nicht den Palästinenser:innen.
Sein Vater stammt aus Polen, die Erinnerung an den Holocaust sei ihm gut im Gedächtnis geblieben. "'Nie wieder' wurde uns gesagt, doch es passiert wieder – diesmal auf israelischem Boden", klagt er.
Der Israeli sei müde von diesem gewaltsamen Konflikt. Er selber könne gerade nicht nach einer Lösung suchen, er wisse aber, dass es sie gibt. Es müsse Frieden auf beiden Seiten gesucht werden, meint er.
Avihai glaubt an Israel und liebt das Land. Hier wurde er geboren, es ist der einzige Ort, an dem er sein möchte. Aber am Ende werde seine Frau entscheiden, ob sie bleiben oder gehen werden – wenn sie zurückkommt. Er sagt es bewusst: wenn, nicht falls.
"Ich möchte wieder zu meinem alten Leben zurückkehren", sagt er. Er erinnert sich an den großen Tisch in seinem Haus. Der Kühlschrank sei immer mit Bier gefüllt gewesen. Freunde kamen einfach rüber, schnappten sich eines und dann saß man stundenlang beisammen. Nun ist einer seiner Freunde tot. Seine Frau und drei Kinder werden von Terroristen wohl im Untergrund von Gaza festgehalten.
Aus glücklichen Tagen: Avihai mit seinen Kindern und Freunden in Israel. bild: privat / avihai brodutch
Bei dem Gedanken an die guten Zeiten an diesem Tisch leuchten sein Augen kurz auf. Er denkt an die fröhlichen und unbeschwerten Stunden. Deswegen gibt er die Hoffnung nicht auf. Weil die Hoffnung größer ist, wieder dort zu sitzen – mit den Menschen, die er liebt.