Seit die Terrororganisation Hamas am 7. Oktober Israel überfallen hat, sind auf beiden Seiten mehr als tausend Menschen gestorben. Die Terroristen haben in den Kibbuzen in der Nähe der Grenze zu Gaza Blutbäder hinterlassen. Sie haben Menschen verschleppt und anscheinend nicht einmal davor zurückgeschreckt, Babys zu misshandeln. Mittlerweile sind laut dem israelischen Militär wieder alle Siedlungen unter israelischer Kontrolle.
Seit dem Holocaust, heißt es aus Israel, seien nicht mehr so viele Jüd:innen an nur einem Tag gestorben. Die Wunde ist tief. Und die von Israel geplante Vergeltung unbarmherzig. Seit Tagen steht Gaza unter Beschuss – die Lage vor Ort wird für die Zivilbevölkerung immer prekärer. Die internationale Organisation "Ärzte ohne Grenzen" spricht von Leichenbergen, von dem Geruch der Verwesung, von Verzweiflung.
Die geplante Bodenoffensive der Israelis dürfte die Lage der Zivilbevölkerung weiter verschlimmern. Die Menschen sind deshalb zur Flucht aufgerufen. Doch einen Ort, an den sie fliehen können, gibt es nicht. Denn bislang macht Ägypten nicht die Grenzen auf. Gaza ist abgeriegelt. Dicht.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat dazu klargestellt:
Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant wurde in seiner Rhetorik noch deutlicher: Er sprach im Zusammenhang mit der Hamas von einem Kampf gegen "menschliche Tiere" – und so müsse auch gehandelt werden. Eine Entmenschlichung des Feinds als Kriegstaktik.
Hubert Annen sagt dazu: "Die Herabminderung des Feindes ist ein üblicher Vorgang in Kriegen und der damit verbundenen Propaganda." Annen ist Professor für Militärpsychologie an der Militärakademie der ETH Zürich. Auf watson-Anfrage verweist er in diesem Zusammenhang auch auf die russische Kriegsrhetorik, nach der die Ukrainer:innen Nazis seien, die nicht das Recht hätten, eine eigene Nation zu sein.
Durch die begangenen Gräueltaten könne es zum einen automatisch dazu kommen, dass der Feind als Mensch zweiter Klasse betrachtet würde, oder – wie in diesem Fall – nur als Tier. "Andererseits wird dieses Bild durch die Propaganda oder auch in der militärischen Ausbildung bewusst geprägt", stellt Annen klar.
Es sei typisch, dass Soldat:innen feindlicher Streitkräfte Übernamen gegeben würden – so ließen sie sich stereotypisieren. Das wiederum führe dazu, dass die einzelnen Kämpfer:innen ihrer Individualität beraubt würden – oder sogar entmenschlicht.
Und das hat laut Annen einen klaren psychologischen Grund: Die Hemmschwelle, den Feind zu töten, sinkt. Moralische Zweifel am eigenen Handeln würden vermindert werden. Denn: "Zu viel Empathie für den Gegner kann für einen Soldaten tödlich sein, wenn auf der Gegenseite diese Empathie nicht vorhanden ist – was sehr wahrscheinlich ist", führt Annen aus.
Auf Social Media sind mittlerweile auch Videos von israelischen Zivilist:innen aufgetaucht, die auf tote Hamas-Terroristen pinkeln. Ob das auch unter israelischen Soldaten vorkommt, ist bislang nicht bekannt. Es wäre aber auch nichts Neues.
Wie Annen ausführt, sind solche Praktiken bereits aus dem Kampf der US-Armee gegen die Taliban bekannt – und auch deutsche Soldat:innen hätten bei dieser Leichenschändung mitgemacht. Auch die Bilder aus dem US-Foltergefängnis Abu Ghraib, in dem irakische Insassen vom Wachpersonal misshandelt wurden, seien vielen in Erinnerung geblieben,
Annen geht auf die damaligen Aussagen eines amerikanischen Soldaten der US-Marine ein: Es sei ein Racheakt gewesen für das, was seinen Freunden und Kameraden angetan wurde. Ähnlich könne es sich in Israel verhalten – Annen sagt dazu:
Er stellt aber auch klar: Ihm sind Videos von israelischen Soldaten, die ihren Feind auf diese Art entehren, nicht bekannt. Was allerdings gesichert vorkomme, sei, dass die israelischen Soldat:innen die Leichen der Hamas-Terroristen erst in zweiter Priorität einsammelten und die betreffenden Säcke in roter Schriftfarbe mit 'Terrorist' bezeichneten.
Aber nicht nur die israelische Seite greift auf psychologische Taktiken zurück. Die Hamas hatte die palästinensische Diaspora weltweit dazu aufgerufen, am Freitag, dem 13. Oktober, einen Tag des Zorns zu verüben. Das bedeutete: Jüd:innen weltweit sollten sich an dem Tag nicht sicher fühlen. In Berlin kam es auf einer Versammlung zum "Tag des Zorns" zu Verhaftungen. Die Landespolizei ermittelt außerdem wegen Volksverhetzung, denn es wurden außerdem Davidsterne an mehreren Haustüren entdeckt.
Hubert Annen hat eine Vermutung, was der Aufruf der Hamas psychologisch bedeuten könnte. Er sagt: "In einer kriegerischen Auseinandersetzung spielt die 'Heimatfront' eine wesentliche Rolle. Diese stützt die Moral der einzelnen Akteure."
Es brauche letztlich die Überzeugung, für die richtige Sache zu kämpfen – und die Gruppe, für die man das tut, hinter sich zu wissen. Die aktuelle Dynamik könne aber auch mit dem Kampf der Systeme zusammenhängen: ein Angriff auf westliche Werte. Darüber aber, meint Annen, könne er nur spekulieren.