Russland ist wieder auf der Suche nach neuen Soldaten: Aber nicht alle jungen Männer wollen für Putin in den Krieg ziehen.Bild: AP / Uncredited
Analyse
Wer sich in Russland gegen den Ukraine-Krieg ausspricht oder den Militärdienst verweigern will, lebt gefährlich. Oft bleibt nur die Flucht ins Ausland. Geheime Netzwerke leisten Hilfe.
Peter Blunschi / watson.ch
Für Dissidenten war Wladimir Putins Russland schon lange ein hartes Pflaster. Seit Beginn der "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine vor einem Jahr ist es noch schwieriger geworden. Wer gegen den Krieg protestiert, muss lange Haftstrafen befürchten. Und mit der "Teilmobilmachung" im September wurde die Schraube nochmals angezogen.
Vielen bleibt nur die Flucht ins Ausland. Bis zu einer Million Russinnen und Russen sollen seit Kriegsbeginn das Land verlassen haben. Weil Visa für die Europäische Union nur noch schwer erhältlich sind, zog es viele nach Armenien, Georgien oder Kasachstan. Oft erhielten sie dabei Unterstützung durch ein Netzwerk von Fluchthelfern.
Dazu gehört die in Berlin ansässige Organisation "In Transit". Gegründet wurde sie gemäß der "New York Times" von drei Frauen aus St. Petersburg. Ihre Identität hält die Zeitung aus Sicherheitsgründen geheim. Ihr Vorgehen erinnert an die Underground Railroad, die vor dem amerikanischen Bürgerkrieg schwarzen Sklaven zur Flucht in den Norden verholfen hatte.
Flucht über 6500 Kilometer
Wie eine solche Flucht funktioniert, schildert die "New York Times" am Beispiel von drei Frauen im Alter von 16, 17 und 19 Jahren aus Wladiwostok im fernen Osten Russlands. Sie waren Teil in einer Antikriegs-Chatgruppe und wurden von einem Mitglied beschuldigt, einen Brandanschlag auf ein Rekrutierungsbüro des Militärs geplant zu haben.
Die drei Teenies versteckten sich im Haus eines Freundes und kamen in Kontakt mit "In Transit". Die Gruppe organisiert Autos, Reisegeld, Unterkünfte und Visa für die Grenzüberquerung. Im Fall der Mädchen war das Ziel Kasachstan, rund 6500 Kilometer von Wladiwostok entfernt. Sie erreichten es nach einer sechstägigen Odyssee mit sechs verschiedenen Autos.
Zu früh "abgeliefert"
Eine derart lange Flucht hat ihre Tücken. So sei einer der Fahrer in einem derart "höllischen" Tempo unterwegs gewesen, dass er die jungen Frauen sechs Stunden vor dem vereinbarten Zeitpunkt in einer sibirischen Stadt "ablieferte". Die Fluchthelfer mussten in aller Eile ein Versteck organisieren, damit die Mädchen nicht in die Hände der Polizei fielen.
Viele Russen flohen im Herbst 2022 vor der ersten Generalmobilmachung.Bild: IMAGO/Lehtikuva
Die Flucht aus Russland hat viele Gesichter. Eines gehört einer 60-jährigen Ökonomin, die von der "New York Times" Irina genannt wird. Sie hatte sich in einer Stadt in Zentralrussland um eine Gruppe von Flüchtlingen aus dem ukrainischen Mariupol gekümmert und war ins Visier des Geheimdienstes FSB geraten, dem Nachfolger des sowjetischen KGB.
"Wir werden dich hier begraben!"
Nach einem einstündigen Verhör wurde Irina in einen Wald verschleppt und geschlagen. "Wir werden dich hier begraben!", habe einer der FSB-Männer geschrien. Nach fünf Stunden ließ man sie laufen, worauf sie sich entschied, das Land mithilfe von "In Transit" und einem von Deutschland ausgestellten humanitären Visum für Regimegegner zu verlassen.
Es ist offenbar kein Zufall, dass sich viele Frauen in der Fluchthilfe engagieren. Ein weiteres Beispiel ist das Netzwerk "Feministischer Antikriegs-Widerstand", das gemäß der "Deutschen Welle" in rund 100 Städten in Russland und im Ausland aktiv ist. Koordiniert wird es von Lilija Weschewatowa, die heute in der armenischen Hauptstadt Jerewan lebt.
Feministinnen helfen Männern
Sie war nach Antikriegs-Protesten zweimal festgenommen worden und hatte das Land im März verlassen. Seither unterstützt sie Fluchtwillige. Seit der "Teilmobilmachung" gehören auch Männer dazu, was für die Feministinnen eine neue Aufgabe war: "Wir haben beraten, Tickets gekauft, Busse organisiert und Menschen untergebracht", so Weschewatowa.
Mehrere hundert Aktivistinnen in Russland und im Ausland seien involviert gewesen, sagte sie der "Deutschen Welle". Sie selbst habe 60 Männern zur Emigration verholfen. Wie knapp es dabei werden kann, zeigt das Beispiel von Oleksandr, einem 32-jährigen ukrainisch-russischen Schauspieler, der ursprünglich aus Donezk stammt.
Flucht durch Badezimmerfenster
Nachdem die Separatisten mit russischer Hilfe 2014 die Macht ergriffen hatten, war er nach Moskau gezogen. Nach Beginn der Mobilmachung schickten ihn seine städtischen Arbeitgeber in ein Rekrutierungszentrum und versicherten ihm, ukrainische Staatsbürger müssten nicht einrücken. Stattdessen hieß es, der Bus werde in einer Stunde abfahren.
Oleksandr kletterte darauf durch ein Badezimmerfenster und sprang auf die Straße. Er rannte 30 Minuten in der Überzeugung, verfolgt zu werden. Durch einen "Freund eines Freundes" kontaktierte er "In Transit" und flüchtete aus Russland. Noch monatelang hätten ihn Albträume geplagt, sagte er der "New York Times".
Mütter bezeichnen Söhne als Feiglinge
Dennoch bereut er nichts, denn mehrere seiner Freunde seien im Krieg gefallen. "In Transit" hat offenbar noch keinen Flüchtling "verloren", im Gegensatz zu anderen Gruppen. In der Regel wurden Leute erwischt, die die Aufforderung ignorierten, ihre Handys zurückzulassen, oder die Bilder ihrer Flucht in den sozialen Medien gepostet hatten.
Eine Frau tröstet einen russischen Soldaten in der Region Donezk.Bild: AP / Alexei Alexandrov
Teilweise wird die Flucht durch Denunzianten vereitelt, die manchmal aus der eigenen Familie stammen. Diese Erfahrungen macht auch das Feministinnen-Netzwerk. "Einige Mütter reden ihren Söhnen sogar ein, sie seien Feiglinge und Deserteure, wenn sie nicht in den Krieg ziehen", sagte Koordinatorin Lilija Weschewatowa der "Deutschen Welle".
Selbst ein General denkt an Flucht
Dennoch hält die Fluchtwelle an, und sie erfasst selbst höchste Kreise. Dies sagte der Menschenrechtsaktivist Wladimir Osetschkin, der seit 2015 im französischen Exil lebt, gegenüber CNN. Zahlreiche FSB-Agenten und normale Soldaten dächten an Flucht, aber auch ein früherer Regierungsminister und ein ehemaliger Dreisterne-General.
Osetschkin versucht zu helfen und gerät dabei selber ins Visier. Im letzten September wurde ein Mordanschlag auf ihn verübt, als er seinen Kindern das Essen servieren wollte. "In diesem Moment habe ich verstanden, dass ich ein sehr großes Risiko für meine Familie erzeugt habe." Heute befindet er sich rund um die Uhr unter Polizeischutz.
Das hält ihn nicht davon ab, weiterzumachen. Im Januar gehörte er zu den Fluchthelfern des Wagner-Kommandanten Andrej Medwedew, der angeblich zu Fuß nach Norwegen gelangt war (die Umstände seiner Flucht sind umstritten). Osetschkin weiß, dass Moskau versuchen dürfte, seine Organisation zu infiltrieren und seine Arbeit zu diskreditieren.
Ans Aufhören aber denken weder er noch andere Fluchthelfer. Denn die Gefahr, für den Krieg rekrutiert zu werden, besteht weiterhin. Allerdings darf man nicht verschweigen, dass auch manche Ukrainer versuchen, sich der Aushebung für den Krieg zu entziehen, trotz Ausreiseverbot und trotz des hohen moralischen Drucks, ihr Land zu verteidigen.