Anhänger:innen des ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten und Oppositionsführers Donald Tusk feiern in der Parteizentrale der liberalkonservativen Bürgerkoalition (KO).Bild: AP / Petr David Josek
Analyse
16.10.2023, 10:1716.10.2023, 10:20
"Ich habe mich noch nie so sehr über den zweiten Platz gefreut", verkündet der polnische Oppositionsführer Donald Tusk. Das Wahlergebnis in Polen sei ein Sieg für die Demokratie und ein Ende der PiS-Regierung.
Dieser Tag sollte allen demokratischen Kräften in Europa Mut machen, schreibt Grünen-Politiker Andreas Audretsch auf X, ehemals Twitter. "Die PiS wollte die Demokratie demontieren und Grundrechte schleifen", führt er aus. Doch Polen habe für freie Medien, unabhängige Gerichte, Menschenrechte und für Europa gewählt.
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Das bisherige Wahlergebnis
Nach der Parlamentswahl in Polen bleiben die Nationalkonservativen laut Prognosen stärkste politische Kraft – dennoch könnten drei proeuropäische Oppositionsparteien die neue Regierung bilden. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kommt wohl auf 36,8 Prozent der Stimmen, wie am Sonntagabend Nachwahlbefragungen des Meinungsforschungsinstituts Ipsos ergaben.
Zweitstärkste Kraft mit 31,6 Prozent würde demnach die oppositionelle liberalkonservative Bürgerkoalition (KO) des ehemaligen Ministerpräsidenten und früheren EU-Ratspräsidenten Tusk.
Wer Polen zukünftig regieren könnte
In den Prognosen wurden der PiS 200 Sitze im neuen Parlament vorhergesagt. Die Mehrheit hat, wer 231 der 460 Mandate erreicht. Als Koalitionspartner kommt nur die ultrarechte Konfederacja infrage, mit der es laut Prognosen allerdings wohl nicht für eine Regierungsmehrheit reicht.
Oppositionsführer Donald Tusk spricht in der Parteizentrale seiner Partei.Bild: AP / Petr David Josek
Die oppositionelle Bürgerkoalition (KO) käme laut Prognosen auf 163 Mandate. Sie könnte mit dem christlich-konservativen Dritten Weg (13 Prozent) und dem Linksbündnis Lewica (8,6 Prozent) eine Koalition bilden. Das Dreierbündnis käme auf 248 Abgeordnete und hätte eine Mehrheit im Parlament.
Oppositionsführer Tusk sah sich am Abend daher schon als Sieger. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski sagte, man warte auf den weiteren Verlauf der Ereignisse. Das endgültige Wahlergebnis steht wohl erst am Dienstag fest.
Das Kräfteverhältnis im Parlament kann sich noch durch Nuancen von wenigen Prozentpunkten für kleinere Parteien verschieben. Erwartet wird eine langwierige Regierungsbildung.
Warum die Opposition so erfolgreich ist
"Der Sieg der Opposition ist das Ergebnis einer wachsenden Ermüdung der PiS-Regierung in der Gesellschaft", meint Piotr Buras in einem Statement. Er ist Leiter des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Warschau. In einer Umfrage von Anfang Oktober gaben laut ihm 61 Prozent der Polen an, dass sie einen Regierungswechsel begrüßen würden. Die sich verschlechternde Wirtschaftslage, die hohe Inflation und die Inkompetenz der Regierung sind Buras zufolge die Hauptgründe für die Niederlage der PiS.
"In der Vergangenheit beruhte die Popularität der PiS auf der Attraktivität großzügiger Sozialleistungen. Viele Wählende sind jedoch besorgt über die als ungerecht empfundene Verteilung der öffentlichen Gelder", schreibt er. Während 2015 bis 2019 haben laut ihm viele Bürger:innen geglaubt, dass es ihnen mit der PiS-Regierung besser ginge – auch wenn sie die ideologischen Positionen der Partei nicht unbedingt teilten. Sie wurden in den vergangenen vier Jahren immer mehr enttäuscht, meint er.
Das bedeutet das Wahlergebnis für die EU
Ein möglicher Machtwechsel in Warschau würde auch eine Wende in der polnischen Außenpolitik bringen. Die nationalkonservative PiS liegt wegen einer Justizreform im Dauerclinch mit Brüssel, das Verhältnis zu Berlin befindet sich wegen ihrer Forderungen nach Weltkriegsreparationen in Höhe von 1,3 Billionen Euro auf einem Tiefpunkt.
Die drei Oppositionsparteien, die sich unter Tusk zusammentun könnten, stehen für einen proeuropäischen Kurs und eine versöhnlichere Politik gegenüber Deutschland.
"Polen wird unter der neuen Regierung Tusk ein konstruktiverer Akteur in der EU-Politik sein, der versucht, die Beziehungen zu den wichtigsten Partnern zu verbessern und das Vertrauen in seine pro-europäischen Qualitäten wiederherzustellen", meint Buras.
Doch nicht alles sei rosig.
Da eine starke und feindlich gesinnte antieuropäische Opposition – PiS und die rechtsextreme Konfederacja – mehr als 40 Prozent der Wählenden vertrete, werde die Gestaltung der europäischen Politik Gegenstand einer polarisierten politischen Debatte sein. Der Experte führt aus: Dies wird den Handlungsspielraum der Regierung einschränken, da sie bei der Umgestaltung des Landes nach der PiS und der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit vor sehr großen Herausforderungen steht.
So reagieren deutsche Politiker
Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Jürgen Hardt (CDU), sagte, der Wahlausgang in Polen zeige, "dass mit Deutschland- und Europafeindlichkeit auch bei unseren Nachbarn keine Wahlen zu gewinnen sind. Die Menschen in Polen gehören zu den großen Gewinnern der europäischen Einigung und lassen sich nicht das Gegenteil einreden." Die CDU/CSU wünsche sich "das rasche Gelingen der Bildung einer neuen polnischen Regierung unter Tusk".
Grünen-Politikerin Nyke Slawik beschreibt das Wahlergebnis als eine Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang in Polen. Alle Parteien der demokratischen Opposition, haben laut ihr einen harten Wahlkampf für Europa, Menschenrechte und Demokratie in Polen gekämpft.
FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann geht davon aus, dass zum jetzigen Stand die Opposition in Polen einen Wahlsieg errungen habe. "Das wäre ein großartiges Signal für die europäische Zusammenarbeit", schreibt sie auf der Plattform X. Auch hebt sie die hohe Wahlbeteiligung hervor: Das sei gutes Zeichen für eine lebendige Demokratie.
Außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung
"In Wrocław stehen die Menschen noch bis spät in die Nacht in Decken gehüllt vor den Wahllokalen", schreibt die Journalistin Kristin Joachim und teilt Fotos von Menschenschlangen. Zwar wurden die Wahllokale offiziell um 21h geschlossen, "aber wer bis dahin noch in der Schlange stand, hatte das Recht, seine Stimme noch abzugeben", schreibt sie auf X. Laut ihr eine historisch hohe Wahlbeteiligung.
Die Reporterin Susanna Zdrzalek teilt dazu eine persönliche Story: "Meine Oma und mein Opa sind heute zu Fuß zu ihrem Wahllokal ein Dorf weiter. Opa, 85, mit dem Rollator. Für ihn ein großer Kraftakt. Eine Stunde hin, eine zurück", schreibt sie auf X. Sie haben für Veränderung gestimmt, betont Zdrzalek.
Auch der "Tagesspiegel" verkündet: Es sei die höchste Wahlbeteiligung seit der Wende 1989 gewesen. Die Mehrheit in Polen setzt sich damit für den Erhalt der Demokratie und des Rechtsstaats ein. Aber: Der Machtwechsel wird nicht einfach.
(Mit Material der dpa)
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