Es laufe "alles nach Plan". Und es handele sich selbstverständlich nur um eine "Spezialoperation" in der Ukraine. Sätze und Worte, die der russische Präsident Wladimir Putin seit seinem brutalen Einmarsch in die Ukraine regelmäßig im Staatsfernsehen, dem Propagandaorgan seiner Wahl, verkündet. Der Westen weiß, dass das nicht stimmt. Und auch in Russland bröckelt die Fassade der russischen Staatspropaganda mittlerweile sichtlich.
Nach einer missglückten Überquerung des ukrainischen Flusses Siwerskyj Donez bei Bilohoriwka wird Kritik in den eigenen Reihen lauter. Bekannte russische Kriegsblogger, die eigentlich wohlwollend über den Kreml berichten, stellen sich plötzlich gegen die russische Armee.
"Hatte der Kommandant des Übergangs bei Bilohoriwka nicht die Information, dass es im dritten Kriegsmonat nicht möglich ist, in großen Kolonnen zu reisen und sie in einem engen Bereich vor einer Wasserbarriere zu sammeln?", schreibt der russische Blogger "Starshe Eddy" auf Telegram. Er meint: Eine Menschenansammlung auf einer Brücke ist ein dankbares Ziel für die ukrainische Artillerie.
Die russische Armee hatte Anfang Mai versucht, den Siwerskyj Donez mittels einer Behelfsbrücke zu überqueren. Dabei wurden sie von der Ukraine angegriffen und so am Übergang und der Umzingelung der Stadt Lyssytschansk gehindert.
Auch direkte Kritik an der Version des Kremls, in der "alles nach Plan" läuft in der Ukraine, wird geäußert. In einem fünfminütigen Video macht sich der Kriegs-Blogger Juri Podolianka auf Telegram über die Erzählungen Putins lustig. Es fehle der russischen Armee in der Realität an unbemannten Drohnen, Nachtsichtgeräten und weiteren Ausrüstungsgegenständen.
Das sind gewagte Äußerungen, wenn man bedenkt, was Gegnerinnen und Gegnern des Kremls in Russland droht: Bis zu 15 Jahre Gefängnis für die Verbreitung von kritischen Informationen über den Krieg gegen die Ukraine.
Deshalb beschränkt sich die lauter werdende Kritik wohl auch auf einige wenige Medienschaffende und Blogger. Der Kreml und sein Umfeld verbreiten hingegen weiterhin geeint Putins Propaganda. Anna Litvinenko, Expertin für russische und osteuropäische Medien und Journalismus an der FU Berlin, sagt gegenüber watson: "Im Kreml und von der Duma habe ich keine von der offiziellen Linie abweichenden Positionen gesehen, alle haben zu viel Angst."
Auch Valeria Korablyova, Forscherin in der Abteilung Osteuropa-Studien an der Karls Universität in Prag, bestätigt: "Die Opposition kritisiert die Regierung nicht für den Krieg in der Ukraine, sondern lediglich für einige Fehler bei dessen Durchführung."
Laut der US-amerikanischen Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) könnte die Kritik der russischen Blogger allerdings Auswirkungen auf die Wahrnehmung in Russland haben. Das Institut schreibt:
Deshalb könnte das Narrativ des Kremls immer weiter unter Druck geraten: "Die Einschätzung dieser weithin gelesenen Blogger könnte die aufkeimenden Zweifel an einem russischen Sieg in der Ukraine befeuern."
Nicht nur russische Kriegs-Blogger kritisieren den Kreml nun offen – trotz weitreichender möglicher Strafen. Auch ein russischer Militärexperte positionierte sich überraschend deutlich im Staatsfernsehen. Der BBC-Journalist Steve Rosenberg teilte am Dienstag ein Video auf Twitter, in dem Mikhail Khodarenok in einer Talkshow im Sender Rossiya 1 zu sehen ist.
In der Talkshow warnte der ehemalige russische Generalstabsoffizier, der als Militäranalyst und Journalist arbeitet, davor, sich "informationell zu betäuben". Über die Berichte in Russland, die ukrainischen Streitkräfte hätten einen moralisch-psychischen Zusammenbruch, sagte er: "Um es vorsichtig zu sagen: Das ist nicht wahr." Im Gegenteil: Die ukrainische Armee könne mithilfe des Westens eine Million Menschen mit Waffen ausstatten. Diese Situation sei nicht normal und werde sich "für uns auf jeden Fall verschlechtern".
Trotz fortwährender propagandistischer Einwände der Moderatorin der Talkshow, lässt sich Khodarenok nicht von seiner Meinung über die Stärke der ukrainischen Armee abbringen.
Allerdings nennt der Militärexperte das russische Vorgehen in der Ukraine nicht beim Namen: Er nimmt das Wort "Krieg" bei seinem Fernsehauftritt nicht in den Mund.
Valeria Korablyova sagt gegenüber watson:
Daher sei dieses Wort in kritischen Debatten nur noch sporadisch präsent, sagt Korablyova.
Am 4. März wurde in Russland ein neues Mediengesetz beschlossen. Es schreibt unter anderem die Haftstrafe für kremlkritische Äußerungen fest und verbietet Social-Media-Dienste wie Instagram und Twitter. Daraufhin stellten zahlreiche russische Medien, aber auch deutsche Medien mit Auslandsbüros in Russland, ihren Dienst ein.
In vielen YouTube-Videos auf oppositionellen Kanälen falle das Wort "Krieg" dennoch, sagt Anna Litvinenko. In solchen Fällen werde es allerdings "übertönt". Denn manche Autoren dieser Kanäle befänden sich immer noch in Russland und müssten sich somit dem neuen Mediengesetz beugen, erklärt sie.
Unter Politikern und Politikerinnen in Russland gebe es allerdings offiziell "keine Wende hinsichtlich dieser Regel". Lediglich von einem "möglichen dritten Weltkrieg" oder Krieg im Allgemeinen werde manchmal gesprochen, sagt Litvinenko. "Dann ist es quasi nicht strafbar."
Kritik gibt es also auch innerhalb Russlands. Aus dem Kreml heißt es allerdings weiterhin: "Alles läuft nach Plan" bei der "Spezialoperation in der Ukraine".
Mittlerweile räumt aber auch die russische Führung Schwierigkeiten im Krieg in der Ukraine ein. Der stellvertretende Sekretär des nationalen russischen Sicherheitsrates, Raschid Nurgalijew, sagte am Mittwoch: "Trotz aller Schwierigkeiten wird die militärische Spezialoperation bis zum Ende fortgeführt."