Volkswirtschaftler sprechen gelegentlich von einem "Elendsindex" (Misery Index). Gemeint ist damit die Summe der Prozentpunkte von Arbeitslosigkeit und Inflation. Hier die Entwicklung dieses Index in den USA in den letzten Jahrzehnten: Bei Ronald Reagans Wiederwahl lag er bei 11,4, bei George W. Bush bei 9, bei Barack Obama bei 9.6 Prozent. Joe Biden schlägt sie alle um Welten: Bei ihm liegt der Misery Index derzeit bei 7.7 Prozent.
Wie sagte doch einst Bill Clinton: "It's the economy, stupid!" Mit anderen Worten: Der aktuelle US-Präsident betreibt eine weit erfolgreichere Wirtschaftspolitik als die meisten seiner Vorgänger in den letzten 40 Jahren. David Brooks, Kolumnist in der "New York Times", zieht daher den logischen Schluss: "Eigentlich sollte Biden locker auf dem Weg zu einer Wiederwahl sein."
Warum er dies nicht ist, davon später mehr. Doch zunächst geht es darum aufzuzeigen, worum es bei der Wirtschaftspolitik des US-Präsidenten geht.
In den Achtzigerjahren hat Ronald Reagan eine Wirtschaftspolitik begonnen, die bald weltweit kopiert und deshalb auch "Reaganomics" genannt wurde. Im Wesentlichen bestand diese Politik aus einer Privatisierung staatlicher Unternehmen, dem Abbau von Steuern, Handelsschranken und gesetzlichen Auflagen für die Märkte. Damit würden die "animalischen Instinkte" der Unternehmer geweckt und die Wirtschaft zu neuen Höhenflügen angetrieben, so die Theorie. Dank dem "trickle down" würde der neu geschaffene Wohlstand nicht nur eine reiche Elite, sondern auch den kleinen Mann und die kleine Frau beglücken.
Reaganomics ist weitgehend Ideologie geblieben. In der Realität hat in erster Linie eine schmale Elite von Superreichen davon profitiert. Vor allem die amerikanischen Arbeiter ohne Hochschulabschluss wurden hingegen die großen Verlierer dieser Politik. Auch in der Theorie sind die Anhänger der Reaganomics inzwischen zu einer kleinen Minderheit geworden.
In der wirtschaftspolitischen Praxis findet ebenfalls ein Umdenken statt. Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater und heimliche Star der Biden-Regierung, hat in einer bedeutenden Rede vor ein paar Wochen einen eigentlichen Abgesang auf die Reaganomics gehalten. Die Effizienz der freien Märkte und die Segnungen des freien Handels würden überschätzt, so Sullivan. Die USA bräuchten eine neue Industriepolitik, eine, die "jenseits der traditionellen Handelsverträge" liege und zu "neuen internationalen Wirtschaftspartnern" führen werde.
Joe Biden hat diese neue Doktrin in seiner bisherigen Amtszeit konsequent umgesetzt. Bisher hat er es jedoch vermieden, ihr seinen Namen aufzudrücken. Der Begriff "Bidenomics" galt im Weißen Haus als ein absolutes No-Go. Das hat sich in den letzten Tagen geändert. Angesichts der näher rückenden Wahlen geht der Präsident in die Offensive und setzt dabei auf die Bidenomics als Erfolgsrezept.
Was genau versteht er darunter? In der "Washington Post" fasst E. J. Dionne die neue Wirtschaftspolitik wie folgt zusammen:
In der Praxis hat sich diese Wirtschaftspolitik bewährt. Der Elendsindex befindet sich wie erwähnt auf einem historischen Tiefpunkt. Im ersten Quartal ist die amerikanische Wirtschaft um zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts gewachsen, fast doppelt so viel wie prognostiziert. Und diesmal ist es nicht eine ohnehin schon reiche Elite, die davon profitiert. In den ersten beiden Amtsjahren der Biden-Regierung wurden 800.000 neue Jobs in Fabriken geschaffen, Jobs, von denen in erster Linie Arbeiter ohne Hochschulabschluss profitieren, und das sind rund 70 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung.
Mehr noch: Die ländlichen Gegenden kommen überdurchschnittlich in den Genuss der neuen Förderungsmaßnahmen der Regierung. Es sind – so fies kann Politik sein – ausgerechnet die "roten" Bundesstaaten, die tendenziell republikanisch wählen, welche die Früchte der Bidenomics ernten können.
Der Erfolg der Bidenomics hat sich auch weltweit herumgesprochen. Regierungsvertreter von Australien und Oppositionspolitiker aus Großbritannien pilgern nach Washington, um sich um zu erkundigen, wie sich diese Wirtschaftspolitik in die Praxis umsetzen lässt. Die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" hat jüngst Ricarda Lang, die Bundesvorsitzende der Grünen, auf einer Reise in die USA begleitet und dabei festgestellt, dass auch diese sich schlau machen will über die Details dessen, was sie das "derzeit spannendste politische Projekt" nennt.
Nur an einem Ort lässt sich der Erfolg der Bidenomics bisher nicht festzurren, in den Köpfen der Amerikanerinnen und Amerikaner. Meinungsumfragen zeigen ein deprimierendes Bild: So hat eine Umfrage von NBC News kürzlich ergeben, dass 74 Prozent der Befragten angeben, die USA befänden sich wirtschaftlich gesehen auf einem Holzweg, und Biden erhält regelmäßig miserable Noten für seine Wirtschaftspolitik. Was läuft hier falsch?
Obwohl sie sich inzwischen in etwa halbiert hat, ist die Inflation immer noch ein wichtiger Faktor der miesen Stimmung. Für Johnny Sixpack ist nach wie vor der Benzinpreis mehr oder weniger der einzig maßgebliche Faktor für sein wirtschaftliches Wohlbefinden. Selbst über banalste ökonomische Zusammenhänge zerbricht er sich lieber nicht den Kopf.
Dazu kommt, dass die Ära von Trump zu Unrecht idealisiert wird. Es trifft zwar zu, dass die Amerikaner sich unter Trump bis zur Pandemie an einem flotten Wirtschaftswachstum ohne nennenswerte Inflation erfreuen konnten. Nur war dies weniger das Verdienst des Ex-Präsidenten als seines Vorgängers Barack Obama, der dafür die Basis geschaffen hatte. Trump hatte ganz einfach unverschämtes Glück.
Der Ex-Präsident hat dem kleinen Mann zwar viel versprochen, aber wenig gehalten. Seine größte wirtschaftliche Tat war eine Steuersenkung, von der die Superreichen profitiert haben. Trumps Ankündigung, endlich in die marode Infrastruktur der USA zu investieren und damit neue Jobs für Nicht-Hochschulabsolventen zu schaffen, degenerierte zu einem schlechten Witz.
Auch aktuell haben die Republikaner wirtschaftspolitisch wenig bis nichts zu bieten. Trump trauert nach wie vor seiner verlorenen Wahl nach und im Abgeordnetenhaus inszenieren die Vertreter der Grand Old Party das zillionste Kapitel des Schmierentheaters um Hunter Biden und seinem "Laptop aus der Hölle".
All dies ist extrem unfair gegenüber dem amtierenden Präsidenten, ändert jedoch nichts daran, dass Biden da durchmuss. Er muss nicht nur eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik betreiben, es muss ihm auch gelingen, sie den Wählerinnen und Wählern verständlich zu machen.