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Russisches Vorgehen: "Auf den ersten Blick inkompetent und lächerlich, aber ..."

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Einer von über 3000: abgeschossener russischer Panzer in der Ukraine, nahe Kiew.Bild: www.imago-images.de / imago images
Analyse

Russisches Vorgehen: "Auf den ersten Blick inkompetent und lächerlich, aber ..."

27.02.2023, 19:28
Patrick Toggweiler / watson.ch
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Detonierende Panzer, Häuserkampf, Granatabwürfe. Noch nie wurden Kriegsbilder so direkt und ungefiltert geteilt wie beim aktuellen Überfall von Russland auf die Ukraine. Täglich erscheinen neue Videos in den Social-Media-Timelines. Und tausende Wohnzimmer-Generäle geben ihr Urteil in den Kommentaren ab.

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Besonders intensiv wurde der desaströse (und bis jetzt erfolglose) russische Angriffsversuch auf Wuhledar mit Spott übergossen. Tatsächlich vermitteln die vielen zerstörten Panzer dem Laien ein Bild von schlecht organisierten russischen Truppen. Doch stimmen diese Eindrücke?

Ganz so einfach ist es nicht, findet Peter Mertens. Wir haben dem Experten für die Truppenführung im Gefecht fünf Szenen aus der Ukraine zur Beurteilung vorgelegt. Mertens erforscht an der Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich unter anderem historische und aktuelle Fragen der Taktik und der "Operativen Führung".

Bevor die Einzelfälle diskutiert werden, streicht Mertens ein paar generelle Punkte heraus, die es zu berücksichtigen gilt.

  • Besserer Überblick als Betrachter
    "Bei der Video-/Bildauswertung ist im Auge zu behalten, dass wir aufgrund des Top-Down-Video-Formats als Betrachter die Lage viel besser überblicken können als die Soldaten unten am Boden – mit der Konsequenz, dass sich uns die Lage anders darstellt als den Betroffenen."
  • Stress im Kampf verzerrt Wahrnehmung
    "Zu bedenken ist bezüglich der am Kampf Beteiligten, dass sich 'in der Hitze des Gefechts' – in einem stark gesteigerten Stresszustand und eventuell übermüdet – die Wahrnehmung verengt, die Verarbeitung eingehender Reizinputs ganz anders erfolgt, als wenn man bequem und in Ruhe vor dem Bildschirm sitzt, und oft das situativ subjektiv Naheliegendste und nicht das Rationale getan wird."
  • Aufzeichnungen zeigen nicht das ganze Geschehen
    "Die Videos erlauben eine Betrachtung aus lediglich einem Kamerawinkel und mit lediglich einem Sensormittel. In der militärischen Nachrichtengewinnung versucht man in der Regel, verschiedene Informationsquellen zu kombinieren und außerdem eine Gefechtssituation aus verschiedenen Blickrichtungen beziehungsweise Kamerarichtungen zu erfassen, da wichtige Informationen sich eventuell hinter Rauch oder Hindernissen verbergen. Für eine Auswertung der Videos wäre es zum Beispiel von Vorteil gewesen, über einen Mitschnitt des Funkverkehrs zu verfügen, da er mehr über die Motive für das Handeln der Panzerbesatzungen verraten hätte, als es jene Stummfilmsequenzen vermögen."
  • Kontext fehlt
    "Die Videos zeigen nur enge Ausschnitte. Es fehlt der Kontext (Positionen und weitere Handlungen des Gegners, eigene Nachbartruppen, Gelände außerhalb des Bildausschnitts etc.), der oft Entscheidendes zur Erklärung des Beobachteten beiträgt oder gar zu einer völlig anderen Deutung führt."

Triggerwarnung: Die Videos zeigen Manöver mit mutmaßlich tödlichem Ausgang und könnten (re-)traumatisierend wirken.

Panzerkonvoi vor Wuhledar (1. Szene)

Analyse von Mertens:

Das Desaster hätte vermieden werden können, wenn:

  • Der Führer der Formation die Aktionen koordiniert hätte.
  • Eine Vorhut vorhanden gewesen wäre, um allfällige Verminungen oder einen Hinterhalt festzustellen.
  • Die Fahrzeuge in der Spur geblieben wären, die als minenfrei gelten kann. (Selbst in Spuren oder geräumten Trassen können jedoch nicht detonierte Minen existieren.)
  • Zuvor der liegengebliebene Panzer, der die Spur blockiert, aus dem Weg geräumt worden wäre.

Erklärbar wäre die Hektik dann, wenn man Beschuss erwartet hätte (siehe a: die Einschlagkrater im Umfeld, b: die absitzende Infanterie, die Deckung sucht) und keine stehenden Ziele bieten wollte.

Panzer fährt ins selbe Minenfeld (Gleiches Video, 2. Szene)

Analyse von Mertens:

  • Engen (beziehungsweise der Raum davor und dahinter) sind perfekte Orte für (Minen-)Sperren. Man sollte sie zuvor zu Fuß erkunden.
  • Dass das zweite Fahrzeug in die gleiche Falle läuft, mag an einer Fehleinschätzung der Breite der Verminung liegen. Es kann aber auch sein, dass der Fahrer/Kommandant nicht erkennt, dass es sich bei der Detonation um eine Mine handelt, sondern vermutet, es handele sich um Artilleriebeschuss mit Präzisionsmunition. In diesem Falle wäre es ein Fehler stehenzubleiben.

Panzer fährt (anscheinend) bewusst über Minen

Analyse von Mertens:

  • Der Fahrer sieht die Mine. Er versucht, mit den Ketten zielgerichtet zwischen den Minen hindurchzufahren, übersieht dabei aber (oder weiß nicht), dass es neben Minen mit Kontaktzünder auch solche mit Infrarot-, Magnet-, Annäherungs- oder Erschütterungszünder gibt.
  • Erstaunlich ist auch, dass, soweit erkennbar, keine ukrainischen Bodentruppen in der Nähe sind. Sperren sollten nicht nur überwacht (Drohne), sondern durch Truppen gesichert werden, um aufgelaufenen Feind zu bekämpfen (siehe Abb. Punkt 4–6).
  1. Sperre (inkl. Verminung und Hindernis), auf welche die Spitze des Gegners aufläuft
  2. Dezentralisierter Anmarschweg in die Angriffsgrundstellung
  3. Bereitstellung des Stoßelementes
  4. Feuerüberfall
  5. Abriegeln des Rückzugsweges und verhindern, dass Gegner nachstoßen oder ausweichen kann
  6. Vernichten des Feindes durch Stoßelemente
  7. Absetzen aller beteiligten Elemente

Panzer passiert detoniertes Gefährt

Analyse von Mertens

  • Aus einem fahrenden Panzer, zumal mit geschlossenen Luken, sind selbst offen platzierte fernverlegte Minen meist kaum zu erkennen.
  • Da es sich an dieser Stelle um keine Verengung oder dergleichen handelt, gab es außerdem zumindest für die erste Besatzung keine klaren Anhalte für eine Verminung.
  • Der zweite Panzer wechselt zwar in eine parallele Fahrspur. Seine Besatzung hätte aber nach dem vorausgehenden Scheitern des ersten Kampfpanzers besser absitzen und die Spur erkunden müssen. Eventuell vermutet sie aber, dass der erste Kampfpanzer durch Artillerie mit Präzisionsmunition getroffen wurde.

Panzerkonvoi versucht den Rückzug

Analyse von Peter Mertens

  • Das Verhalten des Schützen-Panzer-Fahrers ist in der Tat kopflos. Zu beachten ist aber, dass die Kolonne offenbar (Artillerie-)Beschuss erhält und die Fahrer/Kommandanten deshalb bestrebt sind, keine "Sitting Ducks" zu bieten.
  • Auch hier fehlt die Führung, die ein geregeltes Ausweich- bzw. Rückzugsmanöver hätte durchsetzen müssen.

Wiederkehrende Fehler

  • Es fehlt die vorangehende Erkundung beziehungsweise (Gefechts-)Aufklärung des Marschwegs. Zum Beispiel sollte(n) ein oder zwei Fahrzeuge mit Abstand vorausfahren. Laufen diese auf eine Sperre auf, hat die Hauptgruppe Zeit und Raum, zu reagieren. Außerdem besteht die Möglichkeit, verdächtige Stellen (wie zum Beispiel Engpässe) vorab per Fuß zu erkunden (Video 2: Hier hätte ein erfahrener Erkunder den Minen-Typ erkennen können.)
  • In den Videos sind keine genietechnischen Mittel oder Bergungsfahrzeuge erkennbar. Zum Gefecht der verbundenen Waffen (beziehungsweise Einsatz der verbundenen Mittel) gehören aber neben Panzern, mechanisierter Infanterie und Artillerie unter anderem Genie-/Pioniermittel zur Gangbarmachung bzw. Entminung des Geländes oder Entpannungs-/Bergemittel zur provisorischen Instandsetzung oder Bergung liegengebliebener Fahrzeuge.
  • Mangel an Koordination und Führung (insbesondere Video 1 und 4).
  • Die Fahrzeuge fahren zu eng auf. Dadurch wird ein Rangieren und Reagieren erschwert und die Wirkung bestimmter gegnerischer Waffensysteme erleichtert.

Mertens' Zusammenfassung

"Das Verhalten der Soldaten in den Videosequenzen erscheint auf den ersten Blick tatsächlich teils unsinnig, teils inkompetent, teils lächerlich. Bei näherer Betrachtung offenbaren die Videos zudem wiederkehrende Fehler, die auf mangelnde Ausbildung, fehlende Erfahrung und überfordertes Führungspersonal hinweisen. Allerdings war nicht alles, was sich uns als Fehler darstellt, wirklich vermeidbar. Zum Beispiel sind (getarnte) Minen mit bloßem Auge – und erst recht aus dem fahrenden Panzer mit geschlossenen Luken – kaum zu erkennen.

Auch Minensuchgeräte sprechen nicht auf alle Typen von Minen an. In einigen in den Videos gezeigten Situationen kommt noch hinzu, dass die Bereiche, in denen die Minen vergraben waren, noch zusätzlich durch eine Schneeschicht bedeckt sind. Überdies erlauben es Fernverlegesysteme unter anderem, Minen rasch an Stellen zu platzieren, die zuvor als minenfrei gemeldet worden waren, sodass nachfolgende oder im Hinterland marschierende Truppen an unübersichtlichen Stellen überrascht werden. Noch expliziter gilt diese Aussage natürlich für die Nutzung selbstzielsuchender Mörser- oder Artilleriemunition."

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