Jasim erzählt von seiner Verhaftung durch die türkische Polizei, nachdem er sich für Geflüchtete in Istanbul eingesetzt hatte – vor allem für LGBTIQ-Personen. Sein Erlebnis war traumatisierend (Symbolbild).Bild: IMAGO / NurPhoto / Nicolas Economou
Die Stimme
25.11.2022, 18:5426.11.2022, 07:59
"Im November ist mein 31. Geburtstag. Normalerweise habe ich in den letzten 30 Jahren gern meinen Geburtstag gefeiert, aber jetzt ist es anders", erzählt Jasim im Gespräch mit watson.
Noch nie habe er sich so entmenschlicht und seiner Rechte beraubt gefühlt wie im vergangenen Jahr.
Was ist passiert?
In einer Nacht im Mai hat die türkische Polizei Jasim verhaftet. Er hat eine Gruppe afghanischer Asylbewerber ohne Papiere besucht, die als Abfallsammler im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu arbeiten.
Das Verbrechen, das er begangen hat, ist, dass er sich für Geflüchtete einsetzt, die vor allem aus dem Nahen Osten nach Istanbul fliehen. Wie er selbst damals. Verfolgt von extremen Sunniten sowie Schiiten musste er mit 19 Jahren den Irak verlassen. In Istanbul suchte er Zuflucht, engagierte sich für Menschen, die dasselbe Schicksal erleiden wie er. Vor allem kümmert er sich um LGBTIQ-Geflüchtete.
Doch die Situation in der Türkei wird immer gefährlicher – für ihn und seine Arbeit.
Geflüchtete geraten ins Visier der türkischen Polizei
Laut den "Vereinten Nationen" (UN) lebten Ende des Jahres 2021 in der Türkei mehr als vier Millionen Geflüchtete und Asylsuchende. Der Großteil stammt aus Syrien. Ungefähr 322.000 gehören anderen Nationalitäten an, hauptsächlich handelt es sich um Menschen aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran. Mehr als 99 Prozent der Geflüchteten leben in Städten oder ländlichen Gebieten zusammen mit der dortigen Bevölkerung – weniger als ein Prozent lebt in Geflüchtetenlagern. Die Spannungen zwischen Einheimischen und Geflüchteten nehmen laut UN zu. Das spürt auch Jasim.
Die Polizei geht gegen eine LGBTIQ-Kundgebung in Istanbul vor. Die Lage für LGBTIQ-Geflüchteten in der Türkei ist doppelt schwierig.Bild: imago stock&people / Kemal Aslan
Ihm zufolge verschärft der türkische Staat im Vorfeld der Wahlen im nächsten Jahr sein Vorgehen gegen Geflüchtete massiv. "Die Stimmung gegen Flüchtlinge in der türkischen Gesellschaft ist so stark wie nie zuvor", meint der Menschenrechtsaktivist. Zehntausende Menschen wurden ihm zufolge festgenommen und Abschiebungen angedroht. Jasim war einer von ihnen.
Er erzählt:
"Ich habe 17-jährige Afghanen mit Lebensmitteln versorgt, ihnen englische sowie türkische Bücher vorbeigebracht. Sie wollten die Sprache lernen. Die Jungs mussten vor den Taliban fliehen und wollten einen Neuanfang."
Doch als Jasim sie wieder besuchte, waren sie weg. Man sagte ihm, die Polizei habe sie in die Lager in Edirne und Erzurum gebracht. Auf einmal habe jemand die Haustür aufgeschlagen. Aggressive Schreie drangen in das Zimmer, in dem zuvor noch die Teenager aus Afghanistan Zuflucht suchten. Einer der Polizisten wollte bereits zur Waffe greifen, erzählt Jasim. Da schritt er nach vorne und versuchte, die Situation zu deeskalieren.
"Sie sagten mir, ich solle aus der Toilette trinken."
"Mit ruhiger Stimme erklärte ich, dass ich ein Freund der Jungs sei", sagt Jasim. Der Polizist verlangte daraufhin Jasims Ausweis. Weil er in einer anderen Stadt registriert ist, nahmen sie ihn fest. "Die türkischen Beamten fesselten meine Hände und schrien unaufhörlich. Sie verhafteten einen weiteren Mann ohne Papiere im Haus", erzählt Jasim. Er erinnert sich an den Abtransport im Polizeiauto:
"Auf dem Weg zur Polizeiwache hielten die Beamten mehrmals an. Sie würden schnell aussteigen und Männer kontrollieren, die 'anders aussehen'. Am Ende erwischten sie zwei weitere Typen auf dem Weg zum Bahnhof. In der Haltestation erlaubten sie mir nicht, das Telefon zu benutzen, um meine Familie oder einen Anwalt anzurufen. Sie nahmen uns allen die Telefone weg."
Für vier Tage sperrte die türkische Regierung Jasim ins Gefängnis. Die ständige Drohung der Abschiebung sowie die seelischen und körperlichen Misshandlungen machten ihm schwer zu schaffen.
Unmenschliche Behandlung der Inhaftierten: Schläge, Durst, kaum Betten
In einem Raum schliefen 30 Personen auf dem Boden. "Wenn ich Durst hatte, sagten sie mir, ich solle aus der Toilette trinken", erzählt Jasim. Auf die Frage, ob er sauberes Wasser kaufen könnte, erhielt er Schläge mit dem Stock. Auch in der Nacht schlugen die Beamten laut Jasim grundlos auf die Inhaftierten ein, während diese schliefen.
Jasim erinnert sich gut an den Abtransport im Polizeiauto. Vier Tage lang verbrachte er in Gewahrsam (Symbolbild).Bild: imago stock&people / Mustafa Kaya
Am nächsten Tag brachte ein Bus Jasim und andere Gefangene nach Tuzla am Stadtrand von Istanbul. "Als wir im Lager ankamen, steckten sie uns eine Stunde lang in einen großen Käfig draußen in die Hitze", sagt Jasim. Ihnen sei es weder erlaubt gewesen, die Toilette zu benutzen, noch erhielten sie frisches Wasser. Jasim sagt weiter:
"Jeweils 13 Personen mussten sich dann einen großen Container teilen. Unserer hatte eine Toilette im Inneren und vier Doppelbetten. Also mussten wir zu zweit in jedem Einzelbett schlafen. Später am Abend, gegen 22 Uhr, riefen sie uns wieder nach draußen und fesselten uns mit Kabelbinder so fest, dass es schmerzte."
Erneut ging es laut Jasim mit dem Bus auf die Straße – diesmal nach Nevşehir. Auf der zehnstündigen Fahrt wurde Jasim und seinen Begleitern wieder kein Wasser angeboten. Ein 50-jähriger Mann neben Jasim habe sich selbst in die Hose gepinkelt. "Es war eine entmenschlichende Erfahrung", sagt er. Der junge Mann hatte das Gefühl, man würde ihn und den anderen ihrer Würde und Menschlichkeit berauben. Am Morgen kamen sie bei einer Polizeistation in Nevşehir an.
Die Verhaftung ist für den Aktivisten Jasim eine mentale Belastung
Wieder mussten sich Personen die engen Zellen mit zu wenig Betten teilen. Jasim fühlte sich mittlerweile schwindelig und schwach, weil er seine Medikamente seit drei Tagen nicht bekommen hatte. "Ich habe der Polizei jeden Tag mindestens zweimal gesagt, dass ich dieses Medikament brauche, aber sie haben nicht reagiert", erzählt der junge Mann.
Er dachte, dass er verrückt werde, wenn er länger als eine Woche so festgehalten werden würde. Doch dann kam die Erlösung und die Beamten ließen Jasim nach vier Tagen einfach gehen. Seither sei sein Leben aber nicht mehr so wie zuvor. Er sagt dazu:
"Jetzt kann ich nicht mehr aus meiner Nachbarschaft gehen. Ich vermeide Hauptstraßen und Plätze, um Polizeikontrollen zu umgehen. Diese Verhaftung hat einen großen Tribut von mir gefordert und meine rechtliche, sowie psychische Situation stark beeinträchtigt."
Er lebe nun im Geheimen, um seine Arbeit als Menschenaktivist fortsetzen zu können. Jasim will weiterhin LGBTIQ-Menschen in der Türkei helfen. Er rede mit einem Psychologen, gehe regelmäßig ins Fitnessstudio, damit er sich über Wasser halten könne.
"Ich bin jedoch jetzt entschlossener denn je, meine Arbeit fortzusetzen, um gefährdete Flüchtlinge wie mich angesichts dieser systemischen Ungerechtigkeiten und Misshandlungen zu unterstützen", sagt Jasim. Auch wenn seine Sicherheit als Geflüchteter und Aktivist durch diese Arbeit gefährdet sei.
Jasim möchte nach Toronto, Kanada, auswandern und von dort aus weiter als Menschenrechtsaktivist arbeiten. Bild: IMAGO/NurPhoto / Creative Touch Imaging Ltd
Irgendwann möchte er nach Kanada aussiedeln. Ein Freund aus Toronto habe ihm erzählt, dass die Gesellschaft in Kanada jeden Menschen akzeptiere – unabhängig der Herkunft, Religion oder Sexualität. Das reize ihn an diesem Land. "Das habe ich mein ganzes Leben lang vermisst: Eine Gesellschaft, in der ich so sein darf, wie ich bin", sagt Jasim.
Information zur Transparenz
Jasim heißt in Wirklichkeit anders. Wir haben seinen Namen zu seinem Schutz geändert.
In der SPD tobt derzeit die K-Frage, die Diskussion über den nächsten Kanzlerkandidaten. Kanzler Olaf Scholz zeigt sich entschlossen, erneut anzutreten. Doch die Umfragen sprechen eine andere Sprache, zumindest zum aktuellen Zeitpunkt.