"Im November ist mein 31. Geburtstag. Normalerweise habe ich in den letzten 30 Jahren gern meinen Geburtstag gefeiert, aber jetzt ist es anders", erzählt Jasim im Gespräch mit watson.
Noch nie habe er sich so entmenschlicht und seiner Rechte beraubt gefühlt wie im vergangenen Jahr.
Was ist passiert?
In einer Nacht im Mai hat die türkische Polizei Jasim verhaftet. Er hat eine Gruppe afghanischer Asylbewerber ohne Papiere besucht, die als Abfallsammler im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu arbeiten.
Das Verbrechen, das er begangen hat, ist, dass er sich für Geflüchtete einsetzt, die vor allem aus dem Nahen Osten nach Istanbul fliehen. Wie er selbst damals. Verfolgt von extremen Sunniten sowie Schiiten musste er mit 19 Jahren den Irak verlassen. In Istanbul suchte er Zuflucht, engagierte sich für Menschen, die dasselbe Schicksal erleiden wie er. Vor allem kümmert er sich um LGBTIQ-Geflüchtete.
Doch die Situation in der Türkei wird immer gefährlicher – für ihn und seine Arbeit.
Laut den "Vereinten Nationen" (UN) lebten Ende des Jahres 2021 in der Türkei mehr als vier Millionen Geflüchtete und Asylsuchende. Der Großteil stammt aus Syrien. Ungefähr 322.000 gehören anderen Nationalitäten an, hauptsächlich handelt es sich um Menschen aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran. Mehr als 99 Prozent der Geflüchteten leben in Städten oder ländlichen Gebieten zusammen mit der dortigen Bevölkerung – weniger als ein Prozent lebt in Geflüchtetenlagern. Die Spannungen zwischen Einheimischen und Geflüchteten nehmen laut UN zu. Das spürt auch Jasim.
Ihm zufolge verschärft der türkische Staat im Vorfeld der Wahlen im nächsten Jahr sein Vorgehen gegen Geflüchtete massiv. "Die Stimmung gegen Flüchtlinge in der türkischen Gesellschaft ist so stark wie nie zuvor", meint der Menschenrechtsaktivist. Zehntausende Menschen wurden ihm zufolge festgenommen und Abschiebungen angedroht. Jasim war einer von ihnen.
Er erzählt:
Doch als Jasim sie wieder besuchte, waren sie weg. Man sagte ihm, die Polizei habe sie in die Lager in Edirne und Erzurum gebracht. Auf einmal habe jemand die Haustür aufgeschlagen. Aggressive Schreie drangen in das Zimmer, in dem zuvor noch die Teenager aus Afghanistan Zuflucht suchten. Einer der Polizisten wollte bereits zur Waffe greifen, erzählt Jasim. Da schritt er nach vorne und versuchte, die Situation zu deeskalieren.
"Mit ruhiger Stimme erklärte ich, dass ich ein Freund der Jungs sei", sagt Jasim. Der Polizist verlangte daraufhin Jasims Ausweis. Weil er in einer anderen Stadt registriert ist, nahmen sie ihn fest. "Die türkischen Beamten fesselten meine Hände und schrien unaufhörlich. Sie verhafteten einen weiteren Mann ohne Papiere im Haus", erzählt Jasim. Er erinnert sich an den Abtransport im Polizeiauto:
Für vier Tage sperrte die türkische Regierung Jasim ins Gefängnis. Die ständige Drohung der Abschiebung sowie die seelischen und körperlichen Misshandlungen machten ihm schwer zu schaffen.
In einem Raum schliefen 30 Personen auf dem Boden. "Wenn ich Durst hatte, sagten sie mir, ich solle aus der Toilette trinken", erzählt Jasim. Auf die Frage, ob er sauberes Wasser kaufen könnte, erhielt er Schläge mit dem Stock. Auch in der Nacht schlugen die Beamten laut Jasim grundlos auf die Inhaftierten ein, während diese schliefen.
Am nächsten Tag brachte ein Bus Jasim und andere Gefangene nach Tuzla am Stadtrand von Istanbul. "Als wir im Lager ankamen, steckten sie uns eine Stunde lang in einen großen Käfig draußen in die Hitze", sagt Jasim. Ihnen sei es weder erlaubt gewesen, die Toilette zu benutzen, noch erhielten sie frisches Wasser. Jasim sagt weiter:
Erneut ging es laut Jasim mit dem Bus auf die Straße – diesmal nach Nevşehir. Auf der zehnstündigen Fahrt wurde Jasim und seinen Begleitern wieder kein Wasser angeboten. Ein 50-jähriger Mann neben Jasim habe sich selbst in die Hose gepinkelt. "Es war eine entmenschlichende Erfahrung", sagt er. Der junge Mann hatte das Gefühl, man würde ihn und den anderen ihrer Würde und Menschlichkeit berauben. Am Morgen kamen sie bei einer Polizeistation in Nevşehir an.
Wieder mussten sich Personen die engen Zellen mit zu wenig Betten teilen. Jasim fühlte sich mittlerweile schwindelig und schwach, weil er seine Medikamente seit drei Tagen nicht bekommen hatte. "Ich habe der Polizei jeden Tag mindestens zweimal gesagt, dass ich dieses Medikament brauche, aber sie haben nicht reagiert", erzählt der junge Mann.
Er dachte, dass er verrückt werde, wenn er länger als eine Woche so festgehalten werden würde. Doch dann kam die Erlösung und die Beamten ließen Jasim nach vier Tagen einfach gehen. Seither sei sein Leben aber nicht mehr so wie zuvor. Er sagt dazu:
Er lebe nun im Geheimen, um seine Arbeit als Menschenaktivist fortsetzen zu können. Jasim will weiterhin LGBTIQ-Menschen in der Türkei helfen. Er rede mit einem Psychologen, gehe regelmäßig ins Fitnessstudio, damit er sich über Wasser halten könne.
"Ich bin jedoch jetzt entschlossener denn je, meine Arbeit fortzusetzen, um gefährdete Flüchtlinge wie mich angesichts dieser systemischen Ungerechtigkeiten und Misshandlungen zu unterstützen", sagt Jasim. Auch wenn seine Sicherheit als Geflüchteter und Aktivist durch diese Arbeit gefährdet sei.
Irgendwann möchte er nach Kanada aussiedeln. Ein Freund aus Toronto habe ihm erzählt, dass die Gesellschaft in Kanada jeden Menschen akzeptiere – unabhängig der Herkunft, Religion oder Sexualität. Das reize ihn an diesem Land. "Das habe ich mein ganzes Leben lang vermisst: Eine Gesellschaft, in der ich so sein darf, wie ich bin", sagt Jasim.