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Ukraine-Krieg: Baerbock schafft unmittelbare Nähe zu Opfern in Butscha

Annalena Baerbock Buendnis 90/Die Gruenen, Bundesaussenministerin, macht sich ein Bild der Zerstoerung im Rahmen eines Besuches der Stadt Butscha, 10.05.2022. Baerbock reist als erste Vertreterin der  ...
Annalena Baerbock ist die erste Regierungsvertreterin, die seit dem russischen Angriffskrieg in die Ukraine gereist ist.Bild: imago images / imago images
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Wir sind Butscha

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock reist nach Kiew und lässt sich über die Gräueltaten im Vorort Butscha aufklären. Dort sagt sie einen bemerkenswerten Satz: "Die Opfer könnten wir sein." Sie will, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden – und schafft dabei eine Nähe zwischen uns und den Betroffenen, die sie so vielleicht gar nicht geplant hatte.
10.05.2022, 18:2610.06.2022, 11:25
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"Je suis Charlie", "Je suis Paris", "Je suis Orlando". Mit diesen Sätzen schufen wir alle ab dem Jahr 2015 weltweit eine Vertrautheit, eine Nähe zwischen uns und den Opfern schrecklicher Taten. Wir zeigten unsere Solidarität. Waren schockiert von diesen Angriffen. Denn sie waren keine Angriffe auf einzelne Personen oder Organisationen: Es waren Angriffe auf die Demokratie, auf die westliche Welt, auf unsere Moral – auf uns.

Ein islamistisches Attentat im Januar 2015 auf die französische Satirezeitung "Charlie Hebdo" (12 Tote), mehrere Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris (130 Tote), ein Massaker in Orlando im Juni 2016 (mindestens 50 Tote).

"'Je suis Butscha' hat bisher noch niemand gesagt."

Und jetzt: zahlreiche Angriffe, seit Monaten auf unterschiedlichste Orte in der Ukraine. Auch das sind Angriffe auf uns. Sie sind ein Krieg, der gegen unsere Wertevorstellung geführt wird.

Im Kiewer Vorort Butscha wurden nach dem Abzug russischer Truppen mehr als 400 Leichen gefunden – einige waren gefesselt, mit den Händen auf dem Rücken. Frauen, Kinder und auch Männer wurden vergewaltigt, gefoltert.

"Je suis Butscha" hat bisher noch niemand gesagt.

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Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zu Besuch bei dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.Bild: dpa / Florian Gaertner

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ist am Dienstag in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist. Sie lässt sich über diese Gräueltaten aufklären, spricht mit der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Versucht die Wogen zwischen Deutschland und der Ukraine wieder zu glätten, nachdem es Ärger um eine offensichtliche Ausladung an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gegeben hatte.

Tatsächlich wird sie sogar von Präsident Selenskyj empfangen.

Baerbock steht nun da: Als erstes deutsches Regierungsmitglied, das die Ukraine seit dem Angriff Putins am 24. Februar besucht. Sie blickt in die vielen Kameras der Journalistinnen und Journalisten. Und sie fordert Aufklärung. Sie will die Täter zur Rechenschaft ziehen. "Das sind wir den Opfern schuldig", sagt sie. "Und diese Opfer, auch das spürt man hier so eindringlich, diese Opfer könnten wir sein."

Die Grünen-Politikerin schafft mit diesem Satz eine Nähe zwischen uns und den Opfern des russischen Militärs, die sie womöglich zunächst nicht zu schaffen versuchte.

Und diese Nähe ist gut!

Sie tut weh, aber allein der Gedanke, auch uns hätte ein solcher Angriff treffen können, macht Angst. Er sorgt für ein beklemmendes Gefühl. Lässt den Wunsch wachsen, die Zeit zurückdrehen zu können, alles ungeschehen zu machen. Füttert den Drang, zu helfen.

"Ya Bucha" (Я - Буча), "Ich bin Butscha".

"My Bucha" (Ми - Буча), "Wir sind Butscha".

Solche Gedanken sind es, die den Geist der Solidarität stärken. Wir identifizieren uns mit den Opfern. Fühlen mit, leiden mit, sorgen uns, wollen helfen und wollen vor allem, dass diese Menschen von ihrem Leid befreit werden.

Ja, wir könnten diese Opfer sein. Irgendwie sind wir sie auch. Natürlich haben wir nicht persönlich und unmittelbar unter diesen schrecklichen und blutrünstigen Taten gelitten. Aber: Diese Angriffe galten eben auch uns.

"Putin und Lawrow schaffen grausame Bilder. Bilder, die so schrecklich sind, dass man sich nicht vorstellen kann, dass sie wahr werden. Doch diese Bilder sind leider Wirklichkeit geworden – in Butscha."

Wladimir Putin greift uns alle mit seinem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine an. Er selbst und auch sein Außenminister Sergej Lawrow machen aus ihren Gedanken keinen Hehl: Sie führen längst Krieg mit der Nato, mit dem Westen, mit der Demokratie und mit unseren Werten. Dass sich die Ukraine seit 2013 immer mehr Richtung Westen orientiert, passt nicht in deren Bild.

Mit widerlichen, feigen und grausamen Taten wollen sie uns allen zeigen, welche Macht sie über einzelne Menschen ausüben können. Es ist ihr sadistisches Spiel. Sie laben sich an unserer Angst und unserem Leid.

Sie wollen Ängste schüren. Und zwar nicht nur mit der Drohung, Atombomben zu werfen. Sie schüren Ängste beim Feind, ganz privat. Sie dringen in deren Köpfe ein und schaffen grausame Bilder. Bilder, die so schrecklich sind, dass man sich nicht vorstellen kann, dass sie wahr werden. Doch diese Bilder sind leider Wirklichkeit geworden – in Butscha.

Und Baerbock zieht mit ihrem Satz – "diese Opfer könnten wir sein" – nun eine Verbindungslinie. Eine Linie, die in unseren Köpfen folgendermaßen verlaufen könnte: Butscha könnte morgen Kiew sein. Und Kiew könnte übermorgen Warschau sein. Und Warschau könnte zu Berlin werden.

Und dann sind wir wieder da, wo wir schon waren: Wir sind Butscha.

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Ein Ermittler trägt eine Weste mit der Aufschrift "War Crimes Prosecutor" ("Ankläger für Kriegsverbrechen"). Er sammelt Beweise für Kriegsverbrechen in Butscha.Bild: dpa / Carol Guzy

Annalena Baerbock fordert also Aufklärung und Gerichtsurteile. Doch damit allein ist es in diesen Tagen nicht getan. Die Last, die die Überlebenden dieser Taten auf ihren Rücken tragen, müssen wir gemeinsam mit ihnen stemmen. Sonst wäre die Solidarität, von der deutsche Politikerinnen und Politiker momentan wie aus einem Munde immerzu sprechen, nur ein geheucheltes Wort.

Nichts weiter.

Es ist mehr zu tun, um solidarisch zu sein: psychologische Hilfsprogramme, weitere finanzielle, wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung während des Krieges, Waffenlieferungen. Und am Ende: Hilfe beim Wiederaufbau, finanzielle Wiedergutmachung vonseiten Russlands, wenn es irgendwann zu einer Verurteilung kommen sollte – vor allem an diejenigen, die unter dem Machtwahn des russischen Militärs leiden mussten.

Es braucht mehr als Aufklärung. Es braucht mehr als ein internationales Straftribunal. Es braucht Gerechtigkeit. Denn diese Menschen haben sie verdient. Wir sind sie ihnen schuldig!

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