Wer das Terrorattentat am 11. September 2001 miterlebt hat, wird die Bilder davon wohl nie mehr vergessen. Damals verübten islamistische Terroristen der Organisation Al-Qaida Anschläge auf das World Trade Center in New York, auf das Pentagon in Washington D.C. und auf einen Linienjet. Bilder, die man so zuvor noch nie gesehen hatte: Menschen sprangen etwa in Panik aus dem Hochhaus, als das Flugzeug in das World Trade Center flog. Rund 3000 Menschen starben. Ein schwarzer Tag, der die jüngere Geschichte massiv beeinflusste.
Dafür hauptverantwortlich: der Gründer von Al-Qaida und wohl einer der bekanntesten Terroristen überhaupt, Osama Bin Laden. Er veröffentlichte nur einen Tag nach den Anschlägen einen Brief. Darin versucht er, die ungeheuerlichen Anschläge vom 11. September 2001 zu rechtfertigen. Ein Jahr später veröffentlichte unter anderem "The Guardian" den Brief und hatte ihn bis vor Kurzem online.
21 Jahre nach der Veröffentlichung, haben Tiktok-User:innen den "Brief an das amerikanische Volk" wiederentdeckt. Videos davon gehen auf Social Media viral – und viele stimmen dem längst verstorbenen, gefürchteten Terroristen offenbar zu. Andere zeigen sich schockiert über diese Stimmen aus der Generation Z. Dahinter steckt ein Konflikt, der gerade erneut die Welt entzweit.
Zahlreiche Videos mit dem Osama-Brief finden sich seit Dienstag (14. November) auf allen Social-Media-Plattformen. In dem Brief rechtfertigt Osama Bin Laden die grauenvollen Anschläge mit 3000 Toten, teils mit radikal-islamistischen Verschwörungsmythen und Hass auf Juden. Unter anderem ist darin die Rede davon, dass die USA die "unterdrückerischen Israelis bei ihrer Besetzung unseres Palästinas" unterstützen.
In einem Verweis auf die Staatlichkeit Palästinas sagt der Terrorist in dem Brief: "Palästina steht seit Jahrzehnten unter Besatzung, und keiner eurer Präsidenten hat bis nach dem 11. September darüber gesprochen ..." Osama schließt seinen "Brief an das amerikanische Volk" mit den Worten: "Palästina wird nicht in Gefangenschaft gesehen werden, denn wir werden versuchen, seine Fesseln zu sprengen". Er warnt, dass die Vereinigten Staaten "für ihre Arroganz mit dem Blut von Christen bezahlen" würden.
Osama Bin Laden ist mittlerweile tot. US-Spezialkräften gelang es 2011, ihn in Pakistan zu töten. Doch der aktuelle Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas hat die Stimme des berüchtigtsten Terroristen der Welt von den Toten auferstehen lassen.
Seit dem 7. Oktober herrscht wieder Krieg in Nahost. Nachdem die terroristische Hamas 1400 israelische Bürger:innen wortwörtlich abgeschlachtet und über 200 nach Gaza entführt hat, übt Israel Rache. Eine neue Eskalationsstufe ist erreicht.
Das Land hat geschworen, die Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, zu vernichten. Nach Angaben der Gesundheitsbehörden im Gazastreifen haben diese Angriffe bisher wiederum mehr als 11.000 Tote gefordert.
Der komplizierte Konflikt ist offenbar der Grund, warum Osamas Brief wieder aufgetaucht ist und sich verbreitet hat. Die Proteste für einen Waffenstillstand im Gazastreifen haben sich verstärkt, aber auch extremere Meinungen und Antisemitismus nehmen Fahrt auf. Kommentator:innen gehen so weit, dass sie Verständnis für die brutalen Terroranschläge zeigen.
Denn unter den Videos finden sich zahlreiche unterstützende Stimmen, die sich positiv zu Osama Bin Laden äußern. Das Lesen dieses Briefes habe ihre Weltsicht komplett verändert, schreiben etwa viele.
Die Zeitung "The Guardian" hatte den Brief von Osama bin Laden bereits seit 2002 auf ihrer Website. Nachdem die Videos viral gegangen waren, hat das Medium den Brief von der Seite genommen. Ein gefundenes Fressen für all jene, die in verschwörungsgläubiger Manier davon sprechen, dass die Medien Teil der Mächte seien, die versuchen, die Wahrheit zum Schweigen zu bringen.
Der amerikanische Journalist Yashar Ali berichtet auf X, ehemals Twitter, von dem Phänomen und den User-Äußerungen, die demnach aus allen Schichten und Ethnien stammen:
Er sagt, dass diese Videos nicht nur auf Tiktok beschränkt seien, sondern inzwischen auf verschiedenen Social-Media-Plattformen gepostet wurden.
Viele junge Menschen aus der Generation Z wussten offenbar nichts von der Existenz des Terroristen-Briefes, wie ein Blick auf Social Media zeigt. Sie drücken jetzt ihre Überraschung aus, bezeichnen ihn sogar als "augenöffnend". Ein User schreibt: "In den letzten 20 Minuten hat sich meine gesamte Sichtweise des Lebens, an das ich geglaubt und das ich gelebt habe, verändert."
Die offensichtliche Unterstützung für die Ideen von Osama Bin Laden stößt auf Entsetzen. Tiktok bekommt die millionenfache Terror-Sympathie offenbar nicht in den Griff. Dass dieser Brief jetzt so viral geht, lässt Expert:innen glauben, dass eine bewusste Fakenews-Kampagne läuft.
Die "New York Times" etwa hatte bereits Anfang Oktober berichtet, dass nach der Hamas-Attacke ein gezielter Propaganda- und Desinformationskrieg aus Russland, China und dem Iran auf sozialen Netzwerken wie Tiktok, Instagram, Telegram und X gestartet sei. Dieser richte sich gegen die USA und den Westen an sich.
Es macht den Anschein, als stünden sich in der Öffentlichkeit zunehmend zwei Lager gegenüber: Diejenigen, die kein Mitgefühl mit Menschen in Israel haben. Und diejenigen, denen die Empathie gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen fehlt. Gemäßigte Meinungen finden immer weniger Gehör.
Erschreckend ist jedenfalls, dass nach dem Hamas-Attentat viele Menschen auch Verständnis dafür zeigen, dass Bin Laden Passagierflieger in das World Trade Center stürzen ließ und tausende US-Amerikaner:innen getötet hatte.
Osama Bin Laden selbst, der aus Saudi-Arabien stammte, hatte damals jedoch kein gesteigertes Interesse an den Palästinenser:innen. Sein Ziel: ein radikal-islamistisches Kalifat vom Nahen Osten bis Wien. Er war seit 1998, nach wiederholten Terrorattentaten, die meistgesuchte Zielperson des FBI und Amerikas Staatsfeind Nummer eins.