Pinchas Goldschmidt war der Oberrabbiner von Moskau, bis er im Sommer sein Amt niedergelegt hat.Bild: dpa / Sven Hoppe
Russland
Auch wenn das Jahr 2022 langsam zu Ende geht, der Krieg in der Ukraine geht weiter. Täglich sterben dort Soldat:innen auf beiden Seiten genauso wie Zivilist:innen. Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Raus aus der Ukraine, irgendwo hin, wo es sicher ist.
Seit der russischen Teilmobilmachung sind aber auch etliche Russen im wehrfähigen Alter geflohen. Und nicht nur die. Auch Menschen, die den Krieg gegen die Ukraine ablehnen, haben das Land verlassen. Einer von ihnen ist der ehemalige Oberrabbiner Moskaus, Pinchas Goldschmidt. Er hatte sich geweigert, den russischen Einmarsch zu unterstützen – wollte aber vermeiden, dass seine Gemeinde deshalb Probleme bekommt.
Die Stimmung gegen Juden wird in Russland aus Sicht des Rabbiners immer schlechter.Bild: Pool Sputnik Kremlin/AP / Mikhail Klimentyev
Nun fürchtet Goldschmidt allerdings um die Sicherheit seiner Gemeinde – in einem Interview ruft er Jüdinnen und Juden auf, Russland zu verlassen. Der Ex-Oberrabbiner geht davon aus, dass die Stimmung schlechter werden wird. Und Menschen jüdischen Glaubens dann in Gefahr sind.
Im Gespräch mit dem "Guardian" erklärt Goldschmidt, die russischen Jüdinnen und Juden sollten das Land verlassen, solange es ihnen möglich ist. Dass zu erwarten sei, dass die Stimmung gegenüber der jüdischen Gemeinde kippen könne, sehe man an der russischen Geschichte.
Goldschmidt führt aus: "Wann immer das politische System in Gefahr war, versuchte die Regierung, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde umzulenken."
So sei es sowohl im Zarenreich geschehen, als auch zum Ende der Stalinzeit. Josef Stalin, das frühere Staatsoberhaupt der Sowjetunion, fuhr in den 50er-Jahren eine landesweite antisemitische Hetzkampagne. Viele Menschen jüdischen Glaubens fürchteten damals um ihr Leben.
Goldschmidt geht davon aus, dass seit Beginn des Krieges 25 bis 30 Prozent der jüdischen Russ:innen ausgereist seien. Oder zumindest den Plan hätten zu gehen. Der Weg führt für die meisten von ihnen nach Israel. Auch ein großer Teil der jüdischen Gemeinde in der Ukraine sei bereits geflohen, meint er.
Antisemitismus breitet sich auch in den USA weiter aus
Sorge macht dem Rabbiner aber auch der wachsende Antisemitismus in den USA – dem Land der Freiheit, in dem Jüd:innen jahrzehntelang Zuflucht gefunden haben. Er sagt:
"Viele Jahre lang glaubten die Juden in den USA, dass es eine Ausnahme sei, dass alles, was in Europa und anderen Ländern passiert, dort niemals passieren könnte. Aber in den letzten drei Jahren gab es dort mehr Übergriffe auf Juden als in Europa."
Für ihn ist klar, woher diese erneut feindliche Stimmung gegen Jüdinnen und Juden kommt: "Was sich ändert, ist, dass das politische System viel stärker polarisiert ist, aber auch der Diskurs durch die sozialen Medien auf den Kopf gestellt wurde. Die Polarisierung, die wir sehen, hat den Antisemitismus viel akzeptabler gemacht."
Nach der Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten herrscht viel Ungewissheit darüber, wie es jetzt mit der Ukraine weitergeht. Es gibt nicht unbegründete Ängste davor, Trump könne dem Land bald den Geldhahn zudrehen.