
In der Ukraine werden junge Menschen für den Kriegsdienst gesucht.Bild: imago images / Andreas Stroh
Analyse
Um Russlands Angriffskrieg standzuhalten, braucht die Ukraine mehr denn je Menschen an der Front. Allein um die Frontlinie zu halten, sind etwa eine halbe Million Soldat:innen benötigt. Doch in der Bevölkerung wächst die Angst vor dem Einberufungsbefehl. Daher streifen Teams durch das Land, auf der Suche nach kriegsfähigem Personal.
09.08.2025, 15:5209.08.2025, 15:52
Der 29-jährige Artem müsste eigentlich nicht an die Front – er ist der alleinige Betreuer seiner 66-jährigen, pflegebedürftigen Mutter. In seiner Heimat, der westukrainischen Region Transkarpatien, ist der Krieg zwar bislang weit weg. Doch die Sorge, trotzdem eingezogen zu werden, wuchs mit jedem Monat.
Diese Angst ist nicht ganz unbegründet. Nach eigenen Angaben wurde er erst vor wenigen Monaten von einer sogenannten "Einberufungspatrouille" bedrängt.
Artem: An die ukrainische Front gezwungen – oder teuer bestraft
Die Einberufungspatrouillen durchstreifen Städte und Dörfer, auf der unentwegten Suche nach denen, die sie an die Front schicken können. Doch diese Suche endet oft in Erniedrigung und Bedrohung der Aufgefundenen. So auch bei Artem.
Er war nach einem Sonntagsgottesdienst Ende Juni im Dom von Uschhorod von einer "Einberufungspatrouille", bestehend aus drei Polizist:innen und zwei Militärangehörigen, angesprochen worden. Obwohl er sich als alleinigen Pfleger seiner Mutter ausweisen konnte, hätten sie ihn mitgenommen.
Im Einberufungsbüro, so berichtet Artem gegenüber Al Jazeera, habe man ihn geschlagen und versucht, ihn zu einer "freiwilligen" Meldung für den Kriegsdienst zu drängen. Als er sich weigerte, verbanden die Beamten ihm und vier weiteren Männern Augen und Hände. Außerhalb der Stadt, mit vorgehaltener Waffe, befahlen sie den Gefangenen, auf einen Zaun zuzulaufen – während andere Offiziere die Szene filmten.
Danach wurde ihnen klar, der Zaun markierte die slowakische Grenze, deren illegales Überschreiten mit bis zu vier Jahren Haft geahndet wird. Die Offiziere unterbreiteten ihm ein Angebot: Gegen eine Gebühr könne er freikommen. Umgerechnet 2.000 US-Dollar soll ihm die Freiheit gekostet haben.

Die Einberufung bedeutet: ein Abschied auf unbestimmte Zeit, vielleicht sogar für immer.Bild: imago images / Valentin Sprinchak
Seine Familie, erzählt Artem, musste weitere 15.000 Dollar aufbringen – für ein gefälschtes Ausreisedokument. Ohne dieses wäre er, wie alle Männer zwischen 25 und 60 Jahren, in der Ukraine gefangen gewesen, unfähig, der Einberufung zu entgehen. Nun sitzt er in einem osteuropäischen Land.
"Wenn ich jemals kämpfe, dann nicht für die Ukraine."
Artem gegenüber Al Jazeera
Al Jazeera konnte seine Berichte nicht in allen Punkten unabhängig bestätigen, doch was er schildert, spiegelt sich in anderen Berichten wider.
Einberufung in der Ukraine: Misshandelt durch Militär-Offiziere
Seit mehr als zwei Jahren sind Patrouillen im ganzen Land unterwegs, um Männer im wehrpflichtigen Alter aufzuspüren – selbst private Feiern wie Hochzeiten bleiben davon nicht verschont. Sie kontrollieren Ausweise und vergleichen sie mit eigenen Daten auf mögliche Verstöße.
Denn jede potenziell wehrpflichtige Person ist verpflichtet, persönliche Daten vollständig in einer App anzugeben und regelmäßig zu aktualisieren. Wer dies versäumt oder veraltete Daten hat, muss mit deutlichen Konsequenzen rechnen: Der Führerschein kann entzogen, Bankkonten können gesperrt und im Ausland wichtige konsularische Dienste wie Passverlängerungen oder Beglaubigungen verweigert werden.
Doch neben den offiziellen Einheiten treiben zusätzlich auch Betrüger:innen ihr Unwesen: Sie geben sich als Patrouillen aus und fordern von den Aufgegriffenen hohe Summen Geld. Wer das nicht zahlen kann, wird an die Behörden übergeben.
Empathie für Verängstigte kennen die Einberufungspatrouillen nach Aussagen Betroffener nicht. Entsprechend hätten sie auch keine Hemmungen, die Männer zu erniedrigen, zu misshandeln und zu schlagen.
Offenbar handelt es sich dabei nicht um Einzelfälle: Nach Angaben des ukrainischen Menschenrechtsbeauftragten Dmytro Lubinets wurden allein 2024 mehr als 3.500 offizielle Beschwerden über das Vorgehen der Einberufungspatrouillen eingereicht. Über 50 Militärrekrutierer wurden verurteilt.
Krieg in der Ukraine: Flucht vor der möglichen Einberufung
Das verängstigt viele, die eigentlich nicht in den Kriegsdienst müssen. So auch Ferentz, ein Taxifahrer in der ukrainischen Grenzstadt Uschgorod. Aus Sorge vor den ungerechtfertigten Patrouillen fährt er nur noch gemeinsam mit seiner Mutter Auto. Er hofft, dass sie so seine potenzielle Abführung filmen könnte.
Auch Bohdan lebt in Angst vor der Einberufung. Dabei ist er noch nicht einmal 17 Jahre alt, also noch zu jung für die offizielle Einberufung. Doch seine Familie will kein Risiko eingehen. Deswegen soll er seine Heimat Kiew verlassen und in einem anderen Land neu starten.
Denn der Nachwuchs in der ukrainischen Armee ist rar, ihr Durchschnittsalter liegt bei mittlerweile 45 Jahren. Daher empfahl auch zuletzt US-Präsident Trump der ukrainischen Regierung, das Einberufungsalter von 25 auf 18 Jahre zu senken.
Dem stimmt auch Ihor Romanenko zu. Er ist Generalleutnant im Ruhestand und ehemaliger Vize des ukrainischen Generalstabs der Streitkräfte. Gegenüber Al Jazeera erklärte er, die Mobilisierung müsse ausnahmslos alle Männer im kampffähigen Alter umfassen. Die ukrainische Wirtschaft müsse "umformatiert" werden, um in erster Linie den Bedürfnissen der Armee zu dienen. Denn niemand aus dem Ausland werde für die Ukraine kämpfen.
"Wer unpopuläre strategische Entscheidungen im eigenen Land scheut, verschärft die Lage nur weiter."
Ihor Romanenko gegenüber Al Jazeera.
Angesichts dieser unsicheren Situation erklärt Bohdans Vater Dmitry gegenüber Al Jazeera: "Bei dem Chaos an der Front will man nicht, dass das eigene Kind wegen eines Fehlers seines Offiziers stirbt."
"Ich weiß, das klingt sehr unpatriotisch, aber ich möchte nicht am Ende in einem Graben verrotten."
Bohdan gegenüber Al Jazeera.
Deswegen wird Bohdan ab September in Prag zur Schule gehen, auch wenn er dafür seine Freundin zurücklassen muss.
Ukraine: Proteste gegen erniedrigende Einberufung
In mehreren ukrainischen Städten regt sich zunehmend offener Widerstand gegen die Einberufungspraxis. In Poltawa, unweit der Front, blockierten Anwohner:innen ein Fahrzeug mit neuen Rekruten. Im nicht weit entfernten Krementschuk bewarf eine Frau eine Einberufungspatrouille bei einer Durchsuchung mit einem Stein.
In Winnyzja setzten Polizist:innen Tränengas ein, um eine Menschenmasse vor dem Rekrutierungszentrum zu vertreiben, die versucht hatte, die 100, mutmaßlich illegal festgehaltenen, Männer zu befreien.
Gleichzeitig vertieft sich ein gesellschaftlicher Graben. Aktive und ehemalige Soldaten sowie deren Familien zeigen zunehmend Unverständnis für Männer, die den Kriegsdienst verweigern. "Ich habe mich von vielen Freundinnen distanziert, die das Recht ihrer Ehemänner oder Freunde verteidigen, nicht zu kämpfen", berichtete Hanna Kovaleva Al Jazeera, deren Mann Albert sich 2022 freiwillig meldete. "Diese Einstellung ist widerlich – 'Sollen doch andere sterben, während ich mich hinter dem Rock meiner Frau verstecke.'"