Vor zwölf Jahren begann ein epochaler Einschnitt für die arabische Welt: Am 17. Dezember 2010 zündete sich der 26-jährige Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid selbst an. Zuvor war ihm zum wiederholten Male von der Polizei sein mobiler Verkaufsstand und andere Arbeitsgeräte weggenommen worden – angeblich wegen fehlender Genehmigungen.
Nachdem Bouazizi auf der Polizeistation geschlagen wurde und seiner Beschwerde weder im Rathaus noch beim Amtssitz des Gouverneurs nachgegangen wurde, zündete er sich an.
Daraufhin brachen in ganz Tunesien Proteste gegen die Willkür der Polizei, die Untätigkeit und Korruption der politischen Vertreter und die Unterdrückung der Bürger:innen aus. Millionen Menschen in Tunesien beteiligten sich an den Protesten, die sich schnell gegen das ganze Regime des damaligen Präsidenten Ben Ali richteten.
Das war der Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings.
Denn: die Proteste erfassten die gesamte Region und führten zum Rücktritt einiger autoritärer Herrscher.
Und jetzt: Ausgerechnet am Jahrestag der Selbstverbrennung lässt die Staatsführung Tunesiens Parlamentswahlen durchführen.
Der Arabische Frühling begann in Tunesien. Dort war er auch erfolgreich: Der autoritäre Herrscher Ben Ali legte sein Amt nieder. Doch nicht überall nahmen die Entwicklungen eine positive Wendung. In manchen arabischen Ländern folgte auf die Demonstrationen große politische Instabilität: Libyen, Syrien und Jemen sind noch heute Schauplätze blutiger Bürgerkriege.
Doch der Reihe nach: Menschen in Tunesien gingen auf die Straßen. Sie forderten ein Ende der Unterdrückung, mehr soziale Gerechtigkeit, Freiheit und bald den Sturz des Präsidenten. Thomas Hasel vom Center for Middle Eastern and North African Politics der FU Berlin sagt im Gespräch mit watson:
Die Religion habe eine untergeordnete Rolle gespielt, meint der Experte, auch wenn es in Ländern wie Syrien oder Ägypten anders schien.
Tunesiens damaliger Präsident Ben Ali floh am 14. Januar aus dem Land. Doch Machtmissbrauch, Korruption und Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten gab es auch in anderen arabischen Ländern. Auch dort regierten autoritäre Herrscher seit Jahrzehnten, es herrschten Armut und Arbeitslosigkeit. Gerade unter jungen Menschen. Der tunesische Funke sprang über und die Proteste weiteten auf fast alle arabischen Länder aus.
Zu weiteren Protesten kam es dann auch in Ägypten, in Libyen, Syrien und Jemen – aber auch in Marokko und Bahrain. "In all diesen Ländern herrschten autoritäre Regime oder Monarchien", sagt Hasel. Die Proteste hatten zwar unterschiedliche Ursachen: "Sie waren aber in erster Linie gegen die Unterdrückung durch autoritäre Regierungen gerichtet."
Der Experte sagt weiter: "Insbesondere in Syrien, Libyen und Bahrain hatten die Demonstrationen, die bald in Unruhen und in einigen Ländern in Bürgerkriege mündeten, auch eine starke ethnische und religiöse Komponente."
In Marokko allerdings seien die Proteste schnell abgeflacht. Denn dort sei das Staatsoberhaupt noch immer bei vielen Menschen sehr beliebt, "aber auch weil König Mohamed schnell mit politischen Reformen reagierte", sagt Hasel. Im benachbarten Algerien blieb es 2011 weitgehend ruhig. Das Land hatte in den 1990er-Jahren bereits einen blutigen Bürgerkrieg erlebt. Der Großteil der Menschen hätte noch Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse gehabt. Doch auch in der Hauptstadt Algier protestierten 2011 Menschen gegen die Staatsführung.
Von Protesten kaum eine Spur gab es in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die seien sehr wohlhabend und könnten einer großen Zahl der Bürger:innen gute soziale Bedingungen gewähren. Das habe ein Aufkeimen von Protesten entgegengestanden – die Komponente wirtschaftliche Nöte fehlte in diesen Ländern.
Doch gemeinsam gab und gibt es in den meisten dieser Länder durch das autoritäre politische System einen "Mangel an Demokratie und politischen Freiheiten", wie Experte Hasel meint. Dies führe häufig zu Machtmissbrauch durch staatliche Vertreter:innen und Institutionen, wie Polizei, Geheimdienst und Justiz. Häufig komme auch Korruption und Vetternwirtschaft hinzu, welche die soziale Ungleichheit und die Ungerechtigkeit noch verstärke. "Gepaart mit sozialen Nöten, Arbeitslosigkeit und Armut ergibt das eine explosive Mischung."
Die unterschiedliche Entwicklung in den verschiedenen arabischen Ländern hätten vor allem mit dem jeweiligen Wohlstand oder der Armut zu tun. "Aber auch mit zusätzlichen ethnisch-religiösen Konflikten", meint der Experte. In Syrien habe beispielsweise die religiöse Minderheit der Alawiten, der der Präsident Baschar al-Assad entstammt, seit Jahrzehnten eine Vormachtstellung gegenüber der sunnitischen und der kurdischen Bevölkerung.
In Bahrain waren die Proteste stark durch die schiitische Bevölkerung geprägt und gegen die regierende sunnitische Herrscherfamilie gerichtet.
Aber was bleibt vom Arabischen Frühling? Außer diesem kurzen Moment der Hoffnung auf mehr Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Die Spuren der jahrzehntelangen Unterdrückung, sagt Hasel, verschwinden nicht so schnell. Autoritäre Regime ebenso.
Im Ursprungsland Tunesien sei eine Demokratisierung in Gang gesetzt worden, "die jedoch der 2019 gewählte Präsident Kais Saied wieder weitgehend rückgängig gemacht hat". Eine Verfassungsreform stärkte die Macht des Präsidenten wieder. Die Beteiligung am Verfassungsreferendum im Juli 2022 fiel allerdings gering aus. "Im Moment herrscht eine gewisse Apathie", meint der Experte.
Nun.
Jetzt ist es zwölf Jahre her, dass sich der Gemüsehändler Bouazizi selbst anzündete. Und Tunesien wählt das Parlament. Aber ist es das, was Bouazizi wollte?
Wohl kaum.
Hasel sagt: "Da der amtierende Staatspräsident die Verfassung so hat ändern lassen, dass das Parlament über sehr eingeschränkte Macht verfügt, ist von den Wahlen kein positiver Impuls zu erwarten." Das Amt des Staatspräsidenten sei in Tunesien – ganz so, wie vor dem Arabischen Frühling – mit großer Macht ausgestattet. Der Wissenschaftler erwartet keine große Wahlbeteiligung.
Trotzdem: "Der Arabische Frühling bleibt dennoch in Erinnerung." Und, "dass die Bürger eines Landes große Macht haben können, ein Regime umzustürzen, wenn sie sich zusammentun." Der Experte ergänzt:
Ist der Arabische Frühling also gescheitert? Verpufft? Im Moment sieht es laut Hasel weitgehend danach aus. Die Lage habe sich in den meisten Ländern nicht verbessert. Eher sogar deutlich verschlimmert.
In der jungen Generation sei der Gedanke an eine schnelle Verbesserung ihrer Situation kaum noch vorhanden. Auch wenn die Umstände und Ursachen für die Proteste immer noch vorhanden seien.
Proteste, wie sie vor zwölf Jahren in Tunesien starteten, würden in der Zukunft wieder ausbrechen, "wenn die Regime in den Ländern nicht für sozialen und ökonomischen Aufschwung sorgen können". Doch danach sieht es, meint Hasel, nicht aus – abgesehen von den öl- und gasreichen Staaten am Persischen Golf.