"Keine zwei Stunden vergehen in Khartum, ohne dass Schüsse zu hören sind. Kein einziger Tag, keine Nacht vergeht, ohne dass Bomben zu hören sind", beschreibt Joël Ghazi bereits im April 2024 die erschütternde Lage im Sudan auf der Plattform X. Ghazi ist Nothilfekoordinator bei Ärzte ohne Grenzen.
Seit 14 Monaten tobt der Bürgerkrieg in dem nordafrikanischen Land. Er wurzelt in politischen Spannungen und Machtkämpfen, die nach dem Sturz der zivilen Regierung im Oktober 2021 eskalierten. Armeechef Abdel-Fattah Burhan und General Hamdan Daglo (Hemedti) von den Rapid Support Forces (RSF) ringen um die Vorherrschaft im Sudan.
Die humanitäre Lage wird zunehmend katastrophaler: Gewalt, Hunger und Vergewaltigungen prägen das tägliche Leben. Bomben und Schüsse gehören zum Alltag im Sudan. Massenflucht hat das ganze Land erfasst.
Hilfsorganisationen sind vermehrt die Hände gebunden, Ärzte ohne Grenzen zieht sich aus einem der wichtigsten Krankenhäuser zurück. Der frühere Sondergesandte der Vereinten Nationen für den Sudan, Volker Perthes, zeigt sich alarmiert von der fortschreitenden humanitären Katastrophe. Er fordert verstärkten internationalen Druck.
Inmitten dieses Chaos bildet das Türkische Krankenhaus in Khartum eine der letzten Bastionen der Hoffnung. Es ist eine der wenigen Einrichtungen zur medizinischen Versorgung, die trotz allem noch geöffnet ist, unterstützt durch Ärzte ohne Grenzen (MSF).
Doch die Bedingungen vor Ort sind mittlerweile so "untragbar" und lebensgefährlich geworden, dass die Hilfsorganisation sich zum Rückzug gezwungen sieht. Ärzte ohne Grenzen evakuiert seine Mitarbeitenden aus dem Krankenhaus, wie die Organisation am Donnerstag mitteilte.
"Krankenhäuser und andere zivile Infrastruktur sind seit Beginn der Kämpfe Ziel der Kriegsparteien gewesen. Es gibt keinen effektiven Schutz für medizinisches Personal", erklärt Perthes auf watson-Anfrage.
Die militärischen Fraktionen verfügen über beträchtliche Ressourcen und kontrollieren strategische Gebiete im gesamten Sudan. Der Konflikt hat sich nicht nur auf politische Institutionen, sondern auch auf zivile Infrastrukturen wie Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen ausgeweitet.
Mehrere bereits ausgehandelte Waffenruhen wurden wiederholt gebrochen. Die Gewalt hält unvermindert an.
Ärzte ohne Grenzen hatte es unter lebensgefährlichen Bedingungen geschafft, fast 14 Monate lang kontinuierlich lebensrettende Behandlungen in dem Türkischen Krankenhaus in Khartum anzubieten.
Die Mitarbeitenden des Krankenhauses lebten in ständiger Angst um Leib und Leben. In den vergangenen zwölf Monaten haben sich mehrere gewaltsame Vorfälle abgespielt, wie Claire Nicolet, Leiterin der Notfallhilfe von MSF im Sudan, erläutert. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Einrichtung.
Ärzte ohne Grenzen beschreibt einen der Vorfälle so:
Mehrere Mitarbeitende wurden außerdem bedroht und belästigt. Ein Mitarbeiter war Anfang Juni von bewaffneten Männern mitgenommen und schwer misshandelt worden.
Bevor MSF im Mai 2023 eine Notaufnahme einrichtete und die Kapazität des Operationssaals im Türkischen Krankenhaus erweitert hatte, war es ein spezialisiertes Frauen- und Kinderkrankenhaus.
Fast 80 Prozent aller chirurgischen Eingriffe im vergangenen Jahr betrafen dort lebensrettende Kaiserschnitte für Frauen mit Komplikationen während der Schwangerschaft und Geburt. Das Türkische Krankenhaus bleibt dank des Einsatzes von Mitarbeitenden des Gesundheitsministeriums zwar vorerst geöffnet. Eine Chirurgie gibt es jetzt aber nicht mehr.
Die Zukunft des Krankenhauses mit therapeutischem Fütterungszentrum für Kinder mit akuter Unterernährung und einer Neonatologie-Abteilung – die einzige in ganz Khartum – ist ohne internationale Unterstützung ungewiss.
Der Rückzug von Ärzte ohne Grenzen aus dem Krankenhaus verschlimmert die humanitäre Situation in Khartum weiter, warnt Perthes: "Und was wir in Khartum sehen, geschieht in ähnlicher Weise in allen anderen umkämpften Zonen des Landes."
Nicht nur die medizinische Versorgung fehlt. "Vertriebene haben keine sichere Unterkunft, Bauern können wegen der Kriegsereignisse nicht säen und ernten, immer mehr Menschen sind von Hunger bedroht", führt der ehemalige Sondergesandte der Vereinten Nationen für den Sudan weiter aus. Laut dem aktuellen IPC-Bericht litten zwischen April und Mai 2024 in dem Land nahezu 21,3 Millionen Menschen unter akuter Ernährungsunsicherheit. Die Prognosen sagen eine weitere Zuspitzung voraus.
Es ist für Hilfsorganisationen oder unbeteiligte Dritte äußerst schwierig, eine Verbesserung der Lage herbeizuführen. "Die Vereinten Nationen können keinerlei physischen Schutz liefern – weder für medizinische Einrichtungen noch für Menschen", sagt Perthes.
Dies hat mehrere Gründe: Zum einen natürlich die anhaltende Gewalt. Zudem gibt es keine Blauhelme der Vereinten Nationen mehr im Land. Der Sicherheitsrat der UN sei gespalten und werde keine Entscheidung über die Entsendung einer Friedenstruppe treffen. Die UN-Agenturen wie WFP, Unicef und WHO können ihm zufolge zwar begrenzt materielle Hilfe leisten. "Ihre Hilfe ist jedoch wie die der Ärzte von Ärzte ohne Grenzen durch die anhaltenden Kämpfe gefährdet."
In der Afrikanischen Union wird immer wieder diskutiert, eine Truppe zur Sicherung eines humanitären Waffenstillstands und zur Absicherung humanitärer Hilfe und humanitärer Korridore zu entsenden. Dafür bräuchte es jedoch erst einen Waffenstillstand.
Die regionalen und internationalen Bemühungen um eine Waffenruhe waren Perthes zufolge bislang "unzureichend" und zu "unkoordiniert". Doch es gebe einen Lichtblick:
Zudem haben die Vereinten Nationen zu Waffenstillstandsgesprächen nach Genf eingeladen. Voraussetzung für einen Erfolg der Bemühungen sei genügend Druck auf die Kriegsparteien.
Der Jahresbericht des Flüchtlingshilfswerks UNHCR Mitte Juni verdeutlichte erneut, dass der Krieg im Sudan der entscheidende Faktor für den drastischen Anstieg der weltweiten Zahl von Geflüchteten und Vertriebenen ist. Seit zwölf Jahren zeigt sich demnach ein kontinuierlicher Anstieg der weltweiten Zahl. Bis Ende 2023 waren insgesamt 10,8 Millionen Menschen im Sudan auf der Flucht, wovon mindestens 7,1 Millionen Binnenvertriebene sind.
Martin Glasenapp vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) spricht von der größten Vertriebenenkrise bei Kindern weltweit.
In der Demokratischen Republik Kongo und Myanmar wurden 2023 ebenfalls mehrere Millionen Menschen durch schwere Kämpfe vertrieben. Zusätzlich wurden laut Schätzungen von UNRWA bis Ende 2023 etwa 1,7 Millionen Menschen, also 75 Prozent der Bevölkerung, durch die Kämpfe in Gaza vertrieben.
Syrien bleibt jedoch mit insgesamt 13,8 Millionen gewaltsam Vertriebenen innerhalb und außerhalb des Landes das Epizentrum der Flüchtlingskrise.