Männer in Uniform liegen auf dem Boden und blicken durch das Visier ihrer Waffen. Gemeinsam fliegen sie Drohnen in der Luft, fahren mit dem Kampfpanzer umher und versorgen verletzte Kameraden.
An sich Bilder einer ganz normalen Militärübung zweier Nationen. Die einen tragen eine rot-blaue Flagge als Klettabzeichen auf ihrer Kleidung und die anderen eine weiß-blau-rote. Doch es springt noch etwas anderes ins Auge: Der in einem inneren roten Kreis grinsende Totenkopf. Das Logo der brutalen Söldnergruppe Wagner.
Im Juli trainierten Wagner-Kämpfer gemeinsam mit den belarussischen Streitkräften auf dem Übungsgelände in Brestsky. Nach dem Putschversuch am 24. Juni zogen die Söldner zu Tausenden nach Belarus. Das gehörte wohl zum Deal, den damals der aufmüpfige Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einging.
Doch seither lässt sich Prigoschin nicht in die Karten blicken, wie es mit seiner russischen Privatarmee weitergeht.
Expert:innen warnen, die Wagner-Söldner könnten von Belarus aus Kiew angreifen, andere wiederum debattieren, ihre Zukunft liege in Afrika. Laut der "Kyiv Post" sollen bereits Hunderte Wagner-Söldner nach Russland zurückgekehrt sein. Angeblich werden sie "in den Urlaub" geschickt – eine offizielle Bestätigung eines Rückzugs aus Belarus gibt es nicht.
Eines sei aber klar: "Die Wagner-Kämpfer können sich über ihre derzeitige Lage nicht beschweren", meint Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov auf watson-Anfrage.
Genau genommen seien es die bestmöglichen Konditionen überhaupt, die für sie nach ihrem Putschversuch und der anschließenden formellen Verbannung aus Russland vorstellbar waren, führt der Experte von der Freien Universität Berlin aus.
Denn: Einerseits werden sie in Belarus auf keinerlei Weise durch russische Behörden verfolgt und erhielten nach ihrem Putschversuch de facto eine Vollamnestie. Und der Chef der russischen paramilitärischen Organisation?
"Der reist seelenruhig weiter durch Russland und wurde zuletzt auf dem Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg gesichtet, wo auch Putin anwesend war", meint Gerasimov. Währenddessen bekam der Wagner-Trupp in Belarus eine ausgebaute Infrastruktur, geschlossene Militärbasen und Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt.
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko lässt es offenbar an nichts fehlen und verwöhnt seine Gäste. Dabei ergreift er die Chance, Ausbildungskurse für seine Truppen durch Wagner-Kämpfer in die Wege zu leiten. Gerasimov zufolge ist Belarus für die "Gruppe Wagner" zur neuen Hauptbasis geworden.
Er führt aus:
Sie selbst sprechen davon, dass sie in Belarus "warm und herzlich aufgenommen" wurden, meint der Experte. Laut ihm sagt das schon einiges aus. Allerdings weckt der Aufenthalt der Söldnertruppe in Belarus bei den Ukrainer:innen wenig warme Gefühle – im Gegenteil. Expert:innen debattieren über einen möglichen Angriff der Wagner-Söldner auf Kiew.
Laut Gerasimov sprechen einige Zeichen dafür.
"Verschiedene Wagner-Kommandeure sprachen offen davon, dass man sich jetzt 'im weichen Unterleib der Ukraine' befindet und dementsprechend, falls ein entsprechender Befehl kommt, auf kürzester Strecke Richtung Kiew zuschlagen könnte", sagt der Experte. Zudem befinde sich eine ihrer neuen Basen nun unweit der ukrainischen Grenze.
Dennoch geht Gerasimov nicht davon aus, dass es solch einen Wagner-Vorstoß auf Kiew geben wird – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Laut ihm ist das Grundproblem der Wagner-Söldner nicht gelöst. "Sie haben keine eigenen Quellen für Munitionsversorgung und sind da absolut von staatlichen Stellen abhängig, sei es in Russland oder Belarus", führt Gerasimov aus.
Diese Abhängigkeit sei ursprünglich auch einer der Gründe für den Bruch zwischen der Gruppe Wagner und dem russischen Generalstab gewesen. Seitdem hat sich diese Frage nach Gerasimovs Kenntnisstand in keinster Weise gelöst. Doch sollte etwa Minsk als Munitionslieferant einspringen, könnte sich das Blatt wenden.
Dieses Szenario wäre laut Gerasimov zweifelsohne eine riesige Chance für die russischen Truppen.
Im Falle eines Angriffes auf Kiew müsste die Ukraine laut Gerasimov unverzüglich zusätzliche Truppen von der eigentlichen Front im Osten abziehen und zur Verteidigung der Hauptstadt schicken. "Truppen, die bei der bereits stockenden ukrainischen Offensive fehlen werden", sagt er.
Schon jetzt, allein durch die Androhung und eine hypothetische Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios, müsse der ukrainische Generalstab ein nicht unerhebliches Kontingent im Großraum Kiew und an der belarussischen Grenze halten. "Nur durch ihre Anwesenheit in Belarus stellen die Wagner-Söldner für die ukrainische Offensive einen Störfaktor dar", betont der Experte.
Aber laut ihm wäre Kiew für einen potenziellen Wagner-Angriff zweifelsohne gut gewappnet.
"Seit Monaten errichtet die Ukraine an der belarussischen Grenze Verteidigungslinien und legt Minenfelder an", führt er aus. Militärkontingente werden gezielt in dem Großraum gehalten, um einen neuen Vorstoß auf Kiew abzuschrecken.
Gerasimov zufolge sollte man also nicht in den Eindruck verfallen, dass Wagner-Kämpfer in einer "Hauruckaktion" einfach in Kiew einfahren könnten, wie sie dies im südrussischen Rostov gemacht haben. Dennoch würde solch ein Angriff großen Druck auf das ukrainische Militär ausüben.
"Im Gesamtbild stünde die ukrainische Armee durch die Eröffnung einer zweiten Front und, wie bereits erwähnt, die erzwungene Eilverlegung von Truppen aus dem Osten vor großen Herausforderungen", meint Gerasimov.
Für die ukrainische Offensive wäre ein solches Szenario vermutlich der letzte Sargnagel, prognostiziert er.