Die USA feiert sich als "Land der Freiheit" und trotzdem geschehen Dinge wie diese: Im US-Bundesstaat Florida gelten "Don't say gay"-Gesetze an Schulen, in Tennessee sind Drag-Shows vor Jugendlichen und Kindern verboten und in West Virginia sind geschlechtsangleichende Behandlungen von Minderjährigen verboten – in Texas gelten sie sogar als "Kindesmisshandlung".
USA, the land of the free – aber eben nicht für alle. Vor allem nicht für queere Menschen.
In Deutschland sieht die Lage für queere Menschen glücklicherweise besser aus. Aber eben noch nicht perfekt, wie Sven Lehmann (Grüne) bei watson betont. Er ist Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Kurz: Queerbeauftragter der Bundesregierung.
Sven Lehmann kümmert sich in der Bundesregierung um die Belange der LGBTQIA+-Community – auf Deutsch LSBTIQ+.
Bei watson spricht er darüber, warum queere Menschen weiterhin besonders geschützt werden müssen, was in Deutschland noch getan werden muss und warum der Umgang mit LGBTQIA+-Rechten in Bayern besonders problematisch ist.
Wenn man sich die queerfeindlichen Gesetze in den USA durchliest, werden dunkle Erinnerungen an die Vorstöße im CSU-regierten Bayern wach. Denn wenn es nach der CSU und den Freien Wählern ginge, dürften in Bayern Drag-Lesungen vor Kindern nicht mehr stattfinden. Verboten wurden sie allerdings – zumindest bisher – nicht. Für Sven Lehmann ist dennoch klar: "Deutschland darf sich nicht auf dem Erreichten ausruhen."
Zwar würden Gesetze, wie die Ehe für alle, auch eine gewisse Schlagkraft besitzen, die die Gleichstellung von LGBTQIA+-Personen in der Gesellschaft fördere. Die Zustimmung für Grund- und Menschenrechte queerer Personen sei jedoch in Deutschland immer noch nicht selbstverständlich oder stabil.
"Wie viele Menschen besorgt die zunehmende Spaltung der Gesellschaft auch mich sehr", gibt Lehmann zu bedenken. So gebe es politische Kräfte, die die demokratischen Errungenschaften infrage stellen und LGBTQIA+ mit forcierten Angriffen und Kampagnen in die Rechtslosigkeit und Unsichtbarkeit zurückdrängen wollen.
Damit spielt er auf die Debatte um die Drag-Lesungen in Bayern an. Unter dem Kampfbegriff der "Frühsexualisierung" seien hier uralte Vorurteile mobilisiert worden und das bloße Reden über die Existenz von LGBTQIA+ werde als gefährlich gebrandmarkt. "Das erinnert mich sehr stark an das Anti-Homosexualitäts-Gesetz in Russland oder Ungarn oder das 'Don't-Say-Gay-Gesetz' in Florida", sagt Lehmann.
Und weiter:
Zum Verständnis: CSU-Politiker und früherer Verkehrsminister Andreas Scheuer hatte DeSantis gemeinsam mit Kolleg:innen vor rund zwei Monaten einen Besuch abgestattet.
Kurz zuvor hatte Floridas Gouverneur ein Gesetz nach dem anderen gegen die Rechte von Frauen und queeren Menschen auf den Weg gebracht. "Das kann doch kein Vorbild für Deutschland sein", betont Lehmann. Er ist der festen Überzeugung: "Akzeptanz von Vielfalt heißt letztlich mehr Freiheit für alle."
Diesen Grundsatz nimmt Sven Lehmann auch in seinen Alltag mit. Als Parlamentarischer Staatssekretär, Queerbeauftragter und direkt gewählter Bundestagsabgeordneter für seinen Wahlkreis in Köln gibt es eine Vielzahl an Terminen und Aufgaben, die Lehmann täglich wahrnehmen muss.
Der Grünen-Politiker unterstützt beispielsweise Familienministerin und Parteikollegin Lisa Paus, hält aber auch Kontakt zu den Bundestagsfraktionen, ihren Arbeitskreisen und politischen Parteien. Als Queerbeauftragter kommt noch die Funktion des Ansprechpartners für Verbände und Organisationen hinzu sowie des Bindeglieds zwischen der LGBTQIA+-Community und der Regierung.
Seit Januar 2022 ist Lehmann Queerbeauftragter. In dieser Zeit hat er bereits einiges erreicht. "Dazu gehört etwa die Abschaffung des unsäglichen Diskretionsgebots für queere Geflüchtete sowie die explizite Berücksichtigung von LSBTIQ* im Aufnahmeprogramm für Afghanistan", berichtet Lehmann. LSBTIQ* bedeutet "Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Trans*, Intergeschlechtlich und Queer".
Aber auch die Beendigung der Diskriminierung von schwulen und bisexuellen Männern sowie transgeschlechtlichen Menschen bei der Blutspende kann Sven Lehmann auf seiner Liste der Vorhaben für die Legislaturperiode abhaken. Ebenso wie die Verabschiedung eines Gesetzes zur besseren Ahndung von Hasskriminalität gegen LGBTQIA+.
Aber:
Gemeinsam mit allen Ministerien wurden dafür zahlreiche Maßnahmen in sechs Handlungsfeldern erarbeitet, die im kommenden Jahr gemeinsam mit der Community umgesetzt werden sollen. Koordiniert wird dieses Vorhaben von Sven Lehmann selbst.
Doch die To-do-Liste von Lehmann ist lang. Er möchte noch viel verändern, denn Deutschland dürfe sich nicht ausruhen.
"In Deutschland haben wir zwar wichtige Fortschritte erzielt, um die Rechte und die Sichtbarkeit von LSBTIQ* zu stärken. Laut der OECD [Anm. d. Red. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung] hat Deutschland aber erst drei Viertel des Weges bis zur völligen rechtlichen Gleichstellung geschafft. Ein Blick in die EU zeigt, dass wir mit Platz elf auch eher zum Mittelfeld gehören, was Rechte und Akzeptanz von LSBTIQ* angeht", betont Lehmann.
Grund genug, um noch drei zentrale Gesetzesvorhaben umzusetzen, findet der Queerbeauftragte. Denn mit "Die Würde des Menschen ist unantastbar" im Artikel 1, Grundgesetz, ist es laut Lehmann nun mal nicht getan. Die Realität sehe in Deutschland anders aus. Das Grundgesetz in der jetzigen Fassung konnte die vergangenen Jahrzehnte schlimme Menschenrechtsverletzungen an LGBTQIA+ nicht verhindern.
"Erfolge wie die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare müssen unabhängig von zukünftigen Regierungen in unserer Verfassung abgesichert werden", findet Lehmann.
Konkret will Lehmann zunächst die Gleichstellung von Regenbogenfamilien angehen. Das soll durch eine Reform des Abstammungs- und Familienrechts passieren. Der dabei federführende Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) habe für dieses Jahr bereits einen Entwurf angekündigt.
Auch soll es dem sogenannten Transsexuellengesetz an den Kragen gehen. Meint: Es soll abgeschafft werden. Denn dieses Gesetz regelt seit über 40 Jahren, inwiefern trans* Menschen ihren Namen und den Geschlechtseintrag ändern dürfen.
Dafür müssen unter anderem zwei psychiatrische Gutachten vorgelegt werden, die in der Regel selbst bezahlt werden müssen. In diesen müssen oft intimste Fragen, wie nach der Unterwäsche oder dem Masturbationsverhalten beantwortet werden. Im Anschluss entscheidet dann ein Gericht über den Antrag. "Diese unwürdige Praxis wollen wir beenden", sagt Lehmann.
Stattdessen kommen soll das Selbstbestimmungsgesetz. Es soll die Änderung an Geschlechtseintrag oder Vornamen durch eine Erklärung vor dem Standesamt ermöglichen. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll bald beschlossen werden.
Ein drittes wichtiges Anliegen ist Sven Lehmann eine Erweiterung des Grundgesetzes: "Der dortige Artikel 3 Absatz 3 verbietet Diskriminierung aufgrund von Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft und Glauben. Allerdings fehlt dort ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Identität. Aus diesem Grund möchten wir den Artikel 3 im Grundgesetz entsprechend ergänzen."
Der Queerbeauftragte hat also noch einiges vor sich. Und die wiederkehrenden Debatten, wie etwa rund um Drag-Lesungen in Bayern, zeigen: das ist auch nötig.