Manchmal scheitert es beim deutschen Militär schon an einem kleinen Stück Metall.
Ein Soldat der Bundeswehr berichtete Eva Högl, der Wehrbeauftragten des Bundestags, im vergangenen Jahr, dass das Personal im militärischen Nachrichtenwesen noch immer kein Tätigkeitsabzeichen habe. Im Dezember 2020 habe man ein solches Abzeichen beantragt. Und irgendwann im Jahr 2022 werde man wohl eines bekommen. Weil die zuständigen Stellen monatelang kein grünes Licht für die Beschaffung gegeben hatten.
Diese kleine Posse um ein Abzeichen auf der Kleidung steht im Jahresbericht der Wehrbeauftragten und SPD-Bundestagsabgeordneten Högl.
Högl hat, wie ihre Vorgänger im Amt, eine Sonderstellung im deutschen Parlament: Sie soll eine Art Anwältin für die Soldatinnen und Soldaten sein. Jede und jeder Angehörige der Bundeswehr kann sich an sie mit Beschwerden richten. Und im Jahresbericht fasst die oder der Wehrbeauftragte zusammen, wo der Schuh drückt beim deutschen Militär.
Über das Militär wird dieser Tage in Deutschland so viel gesprochen wie seit Jahrzehnten nicht mehr: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat vielen Menschen vor Augen geführt, wie zerbrechlich das Leben in Frieden in Europa ist. Wenige Tage nach Kriegsbeginn hat die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP innerhalb weniger Stunden den heftigsten Kurswechsel in der deutschen Verteidigungspolitik seit Jahrzehnten eingeleitet:
Aber wofür soll das Geld ausgegeben werden? Was muss passieren, damit Deutschland eine "leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr" hat, "die uns zuverlässig schützt", wie es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Ende Februar in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag versprochen hat?
Die Wehrbeauftragte Högl umhüllt ihre Wörter nicht mit Zuckerguss. Sie sei "entsetzt" gewesen, sagt die SPD-Politikerin, als sie ihren Jahresbericht für 2021 vorstellt und auf das Thema Material zu sprechen kommt. Högl spricht darüber, dass Soldaten im Auslandseinsatz in den westafrikanischen Staaten Mali und Niger ihr erzählt hätten, dass Schutzwesten und Transportpanzer nicht rechtzeitig angekommen seien.
In ihrem Jahresbericht steht von Soldaten, die bei einem Nato-Einsatz in Litauen von den Kameradinnen und Kameraden aus anderen Ländern "belächelt" worden seien, weil sie mit den dort verwendeten Funkgeräten nicht hätten umgehen können. In Deutschland habe man dafür nicht trainieren können. Bei internationalen Übungen sei die Bundeswehr, so heißt es weiter, regelmäßig das "schwächste Glied in der Kette".
Nur 77 Prozent der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr waren 2021 laut Jahresbericht der Wehrbeauftragten einsatzbereit. Das reiche natürlich nicht, meint Högl.
Um diese Mängel zu beheben, dürfe es jetzt keine "Wunschlisten" geben. Man solle zuallererst zügig anschaffen, was schnell besorgt werden könne: Kälteschutz, Helme, fehlende Munition. Das alleine wird wohl teuer genug: Alleine, um so viel Munition zu besorgen, dass die Bundeswehr die entsprechenden Nato-Vorgaben erfüllt, sind laut FDP-Verteidigungspolitiker Marcus Faber 20 Milliarden Euro nötig.
Aus dem Verteidigungsministerium hieß es vergangene Woche, man werde "zeitnah eine neue Priorisierung" vornehmen, um das zusätzlich für die Bundeswehr geplante Geld auszugeben. Man habe "den Auftrag erhalten, eine Liste dringend benötigter Fähigkeiten zu erstellen" und habe die Absicht, eng mit dem Bundestag abzustimmen, wie man nötige Projekte voranbringe.
Denn die Bundeswehr, das stellte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht klar, bleibt eine Parlamentsarmee: Die wesentlichen Entscheidungen über das Militär müssen die vom Volk gewählten Abgeordneten treffen.
Die FDP-Abgeordnete und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann mahnte gegenüber watson Eile an. Insbesondere bei der persönlichen Ausrüstung der Truppe. Sie erklärte:
Strack-Zimmermann forderte, ähnlich wie die Wehrbeauftragte Högl, außerdem, die Bundeswehr müsse sich jetzt wieder stärker auf ihre Kernaufgabe konzentrieren: die Verteidigung Deutschlands und der Nato-Bündnispartner.
Strack-Zimmermann wörtlich:
Die Schrumpfkur der Bundeswehr soll vorbei sein. Bis in die 1980er-Jahre waren in der damals nur aus den westlichen Bundesländern bestehenden Bundesrepublik Deutschland Jahr für Jahr rund 500.000 Soldaten im Dienst. Nach der Wiedervereinigung schrumpfte die Zahl bis unter 200.000. Derzeit besteht die Truppe aus rund 184.000 Menschen. In absehbarer Zukunft soll sie wieder auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten wachsen.
Die Wehrbeauftragte Högl sagte, das sei "eine Mammutaufgabe" für die Bundeswehr. Sie halte die Personalstärke aber für realistisch.
Auf die Frage eines Journalisten, ob die Bundeswehr mit einer Stärke von 203.000 Mann einen Aggressor wie Russland von einer Invasion abhalten könne, verwies Högl darauf, dass die Bundeswehr ihre Verteidigung im Bündnis organisiere, gemeinsam mit anderen Nato-Staaten. Und dafür seien 203.000 Soldatinnen und Soldaten ein "guter, aber auch ausreichender" Beitrag.
Was Högl dafür nicht für nötig hält: eine schnelle Wiedereinführung der Wehr- oder Dienstpflicht. Das sei gerade eine "theoretische Debatte", die wenig zur aktuellen Sicherheit Deutschlands beitrage. Högl hatte in der Vergangenheit mehrfach das Aussetzen der Wehrpflicht im Jahr 2011 beklagt und es etwa 2020 als "Riesenfehler" bezeichnet. Am Dienstag sagte sie, sie freue sich darüber, in Zukunft über eine Dienstpflicht zu diskutieren: Die dürfe aber nicht sein wie die alte Wehrpflicht, sondern müsse vielfältige Möglichkeiten umfassen, sich für die Gesellschaft zu engagieren – und sie müsse natürlich Frauen wie Männern offenstehen.
Seit dem Ende der Wehrpflicht gibt es für junge Menschen ohnehin die Möglichkeit, einen freiwilligen Wehrdienst zu absolvieren: Mit Stand Februar 2022 absolvierten ihn laut Verteidigungsministerium gut 9.100 Menschen.
"Goldrandlösung", das Wort verwendet die Wehrbeauftragte Högl am Dienstag häufig, wenn es um die Bundeswehr geht. Was sie meint: auf Goldrandlösungen, also auf ideale, von Grund auf neu geplante Waffensysteme oder andere Ausrüstungsgegenstände, solle die Bundeswehr künftig nicht mehr so oft warten. Da der Mangel in der Truppe erheblich sei, müsse jetzt vor allem beschafft werden, was auf dem Markt ist.
Ein zentrales Problem, das unterstreicht Högl wie viele andere Verteidigungspolitikerinnen und -politiker in den vergangenen Wochen, ist dabei das Beschaffungswesen. Die bürokratischen Schritte, um selbst einfache Ausrüstung wie Rucksäcke, Jacken oder eben Tätigkeitsabzeichen zu besorgen, sind langatmig und kompliziert.
Der Grund liegt in den Regeln, die zu befolgen sind, wenn der Staat Aufträge vergibt. Diese Regeln sind umfangreich, bei der Bundeswehr wie in vielen anderen öffentlichen Bereichen. Für größere Beträge braucht es öffentliche Ausschreibungen, damit sich mehrere Unternehmen bewerben können. Das erklärte Ziel dieser Regeln ist es, Korruption und Günstlingswirtschaft zu vermeiden – und dafür zu sorgen, dass staatliche Stellen sorgsam mit Steuergeld umgehen. Gerade bei der Bundeswehr sorgen diese umfangreichen Regeln aber dafür, dass es Jahre dauert, bis dringend benötigtes Material bei der Truppe ankommt.
Die Grünen-Politikerin Merle Spellerberg, Mitglied im Verteidigungsausschuss und im Auswärtigen Ausschuss, fordert gegenüber watson eine Reform des Beschaffungswesens. Sie teilt dazu mit:
Die Regeln für öffentliche Aufträge beruhen auf europäischen Richtlinien: EU-Gesetzen also, die die einzelnen Mitgliedsstaaten dann in nationales Recht umsetzen müssen. Deutschland, so drückte es die Wehrbeauftragte Högl am Dienstag aus, habe diese nationale Umsetzung "sehr kleinteilig" gemacht, andere EU-Staaten seien da flexibler.
Eine mögliche Lösung, um die Beschaffung bei der Bundeswehr zu beschleunigen, bietet Artikel 346 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), einer der zentralen Verträge der EU. In Absatz 1 des Artikels ist geregelt, dass EU-Staaten weitgehend selbstständig Entscheidungen treffen können, die die Wahrung "wesentliche[r] Sicherheitsinteressen" betreffen. Er dürfte es Deutschland erlauben, in der momentanen Situation dringend benötigte Ausrüstung für die Bundeswehr anzuschaffen – auch ohne Ausschreibungen.
"Das Geld", so fasste es Högl zusammen, "muss erstens in der Truppe ankommen. Und zweitens muss es zügig ankommen."