Nach einem langwierigen internen Zwist hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Konsequenzen gezogen: Fast zwei Jahren nach Beginn des russischen Angriffskrieges hat er seinen obersten Militärführer Walerij Saluschnyj entlassen. Das teilte Selenskyj am Donnerstag in seiner abendlichen Videobotschaft in Kiew mit. Der neue Oberbefehlshaber soll Generaloberst Olexander Syrskyj sein. Dieser war bislang Kommandeur der ukrainischen Landstreitkräfte.
Innerhalb des ukrainischen Militärs erfreut sich der entlassene Saluschnyj großer Beliebtheit. Die Entscheidung wird darum auch Unmut hervorrufen, wie der Militäranalyst Niklas Masuhr, ehemaliges Mitglied beim Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich, bestätigt. Er ordnet die Entscheidung und deren mögliche Folgen für watson ein. Selenskyjs neuer Oberbefehlshaber liegt demnach mehr auf Linie mit dem ukrainischen Präsidenten. Doch die Probleme im Krieg wird er wohl nicht lösen können.
Seit Wochen gab es bereits Spekulationen über das Schicksal des bei Armee und Bevölkerung beliebten Generals Saluschnyj. Das Zerwürfnis zwischen dem Präsidenten und dem obersten Militär wurde aber zumindest für den Moment des Abschieds beiseite geschoben. Bei einem Treffen in Kiew gaben sich die Männer die Hand und lächelten gemeinsam in die Kamera.
Zu den Hintergründen über die Entscheidung des ukrainischen Präsidenten sagt Militäranalyst Niklas Masuhr: "Zum einen bestehen schon seit Längerem Spannungen zwischen Selenskyj und Saluschnyj, insofern, als der Präsident Saluschnyj mutmaßlich als politische Gefahr betrachtet hat."
Zum anderen werden den beiden laut Masuhr unterschiedliche militärstrategische Prioritäten nachgesagt: So scheint demnach Selenskyj "jeden Meter ukrainischen Territoriums verteidigen" zu wollen, "während Saluschnyj eher bereit ist, zurückzufallen und dabei russische Truppen abzunutzen".
Die unterschiedlichen Prioritäten bezeichnet der Militäranalyst "vereinfacht gesagt" als "Bachmut- und Awdijiwka-Ansatz". Er verdeutlicht dies mit den Beispielen der Kriegsgeschehen bei den Städten:
Unstimmigkeiten suchten sich immer wieder in der Öffentlichkeit ein Ventil: In einem aufsehenerregenden Artikel für die britische Zeitschrift "The Economist" schrieb der General Saluschnyj etwa davon, dass der Krieg am Boden in eine Pattsituation geraten sei. Nur große Waffenlieferungen und ein Technologiesprung könnten die Ukraine wieder in die Offensive bringen.
Selenskyj widersprach seinem höchsten Militär bei dieser Einschätzung öffentlich. Auch in der Frage einer weiteren Mobilisierung von Soldaten waren die Verantwortlichen für die ukrainische Kriegsführung uneins. Nach Medienberichten hatte Selenskyj den General schon Ende Januar zum Rücktritt gedrängt; dieser lehnte demnach aber ab.
Nun also die endgültige Trennung.
Unmut ist hier wegen der großen Beliebtheit des Generals wohl vorprogrammiert, wie der Militäranalyst bestätigt: "Es ist in der Tat zu erwarten, dass dieser Schritt in der Armee nicht gut ankommen wird, übrigens auch nicht unbedingt bei den westlichen Unterstützern." Wie signifikant die Moral aber sinken könne und werde, könne er nicht vorhersehen. Auch nicht, "inwieweit die möglicherweise durch den Personalwechsel gesteigerte Einigkeit auf der Führungsebene einen solchen Moraleffekt abfedern" könne.
Die gesteigerte Einigkeit erhofft sich Selenskyj wohl durch den neuen Oberbefehlshaber, Olexander Syrskyj.
Syrskyj ist sich in militärischen Fragen mit dem ukrainischen Präsidenten weitgehend einig, betont Militäranalyst Masuhr. Der 58-Jährige hat noch die sowjetische Schulung durchlaufen. Der Generaloberst ist ethnischer Russe, er wurde im russischen Gebiet Wladimir geboren und lebt seit 1980 in der heutigen Ukraine.
Die Liste seiner Verdienste ist ebenfalls lang. Er war ein Kommandeur bei der Verteidigung gegen die als Separatistenbewegung getarnte russische Besetzung der Ostukraine ab 2014. Seit 2019 kommandiert der verheiratete Vater eines Sohnes die Landstreitkräfte der Ukraine. In Sachen Beliebtheit kann er innerhalb des Militärs aktuell Saluschnyj nicht das Wasser reichen, wie Masuhr verdeutlicht:
Ob und inwieweit sich diese Skepsis bewahrheitet, werde sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. Fest stehe allerdings, dass sich die ungünstigen Bedingungen, denen sich die ukrainischen Kräfte am Boden entgegensehen, nicht in naher Zukunft lösen ließen. "Unabhängig von der genauen Führungsstruktur", sagt der Militäranalyst.