Wildpferde weiden in den Steppen. In der Weite ragen Berge in den Himmel. Autos, die ihre besten Tage hinter sicher haben, klappern über die Straßen.
Der Kontrast zwischen Naturspektakel und Zivilisation, zwischen Armut und Luxus könnte kaum größer sein: Wer vom kasachischen Land in die großen Städte hineinfährt, kann ein Lied davon singen.
Von einfachen, teils heruntergekommen Siedlungen, hinein in einen hoch entwickelten Großstadtdschungel aus glänzenden Bankgebäuden, pompösen Einkaufszentren und erstklassigen Fahrzeugen.
Kasachstan polarisiert. Sowohl innen- als auch außenpolitisch. Doch im Westen spricht noch kaum jemand über das Herz Zentralasiens. Dabei ist das pulsierende Land nicht nur wichtig für die Region, sondern auch für Europa – und zwar vor allem als Öllieferant.
Kasachstan gilt als einer der engsten Verbündeten Russlands – doch jetzt bietet es Russland die Stirn.
Denn mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine will Kasachstan nichts zu tun haben. Bringt diese Haltung den postsowjetischen Staat in eine gefährliche Lage?
Tatsächlich, erklärt der Zentralasien-Experte Temur Umarov gegenüber watson, hat sich seit dem 24. Februar einer der engsten Verbündeten Kasachstans zu einem toxischen Akteur für die internationale Gemeinschaft verwandelt. "Kasachstan befindet sich seither in einer unbequemen Position", meint der gebürtige Usbeke, der bei der "Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden" forscht.
Vor dem Krieg in der Ukraine habe Kasachstan exakt die rote Linie gekannt: Bis hierher und nicht weiter. Doch jetzt ändert sich das offenbar. Das meint zumindest der Osteuropa-Historiker Robert Kindler auf Anfrage von watson. Das postsowjetische Land teste seine Grenzen aus. Der Geschichtsprofessor von der Freien Universität Berlin meint:
Kasachstan nähert sich dem Westen an, ist aber offenbar noch zögerlich. Das meint auch der Politikwissenschaftler Umarov. "Kasachstan steht im Austausch mit der Nato, mit amerikanischen Unternehmen und vielen westlichen Investoren", erklärt Umarov. Mit dem Krieg in der Ukraine wisse das Land nicht so recht, ob es in Ordnung sei, weiterhin mit westlichen Staaten zu kooperieren. "Die rote Linie wurde durch den Krieg weggewaschen", meint Umarov.
Demnach traut sich das Land Seitenhiebe auszuteilen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin seit dem Krieg in der Ukraine:
Kasachstan hat zudem den Waffenexport für mindestens ein Jahr eingestellt. Das Land wollte dazu keine Begründung geben, aber der leitende Politikberater bei der "Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" Bakhti Nishanov hat einen Verdacht: Kasachstan will keine Waffen an Russland verkaufen. "Auf eine andere Weise macht Kasachstan deutlich, auf wessen Seite es in diesem Krieg steht", meint der Zentralasien-Experte auf Twitter.
Das geht nicht spurlos an Russland vorbei. Laut Umarov hat dieses Verhalten zu einer Welle an Aggressionen gegen Kasachstan geführt. "In Russland spricht man nun von einer Entnazifizierung Kasachstans. Es ist kein guter Verbündeter mehr", sagt Umarov. Zudem sei die Debatte in Russland entfacht, dass aus historischer Sicht Kasachstan zu Russland gehöre, meint Historiker Kindler.
Genau diese Argumente nutzte Putin bereits als Legitimation, um in die Ukraine einzumarschieren. Es ist ein Propaganda-Instrument, mit dem Russland eine mögliche Eskalation hervorrufen könnte. Der geschichtsverdrehende – also erfundene – Anspruch auf Landgebiete. Dieses Mittel wenden jetzt russische Politiker:innen gegen Kasachstan an:
Kindler sagt dazu:
Doch Kindler gibt gleichzeitig Entwarnung: Solche Aussagen gehörten zur russischen Strategie der Verunsicherung. Blindgranaten, wie er es nennt. Denn einen militärischen Angriff auf Kasachstan könne sich Russland momentan gar nicht leisten. "Militärisch gesehen ist ein Angriff auf Kasachstan für Putin aussichtslos, denn er kann keine weiteren Kräfte mobilisieren."
Kindler fügt hinzu, dass Russland momentan auch kein Interesse daran hat, Chaos in Zentralasien zu verursachen. "Putin hat schon genug außenpolitische Probleme zu stemmen." Und genau das ist sich Kasachstan bewusst und nutzt die Schwäche Russlands als Sprungbrett über die rote Linie, um neues Terrain mit dem "Großen Bruder" zu erkunden.
So ist Kasachstan Umarov zufolge das einzige Land in Zentralasien, dass im Kontakt mit der Ukraine steht. Zudem verbanne es das Propagandasymbol "Z", das Russland für seinen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine gezielt inszeniert.
"Auch erlaubt Tokajew seiner Bevölkerung öffentlich auf den Straßen gegen den Krieg Russlands zu demonstrieren", meint Umarov. Dabei haben die Kasachen erst im Januar gegen ihre Regierung protestiert und Russland war es, der Tokajew zur Hilfe eilte, um die Aufstände gewaltsam niederzuschlagen.
Darin sieht Kindler einen weiteren Grund für die kleine Rebellion Kasachstans gegen Russland. "Tokajew möchte beweisen, dass er keine Marionette Putins ist, auch wenn dieser ihm bei den Protesten im Januar unter die Arme griff."
Aber wie weit kann sich Kasachstan aus dem Fenster lehnen, bevor Putin einschreitet?
Langfristig gesehen, ist sich Umarov nicht sicher, ob Russland für Kasachstan ungefährlich bleibt. "Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass Russland unberechenbar ist. Das Land handelt nicht logisch und pragmatisch." Zudem besitzt Russland dem Zentralasien-Experten zufolge genügend andere Instrumente, um Kasachstan in Schach zu halten.
Wenn Putin will, könnten von heute auf morgen Nahrung und Kleidung zur Mangelware in Kasachstan werden. Denn Russland gehört Umarov zufolge zu den größten Importeuren Kasachstans. Auch wenn es um das Erdöl geht, hat Russland das letzte Wort. "80 Prozent der kasachischen Ölexporte fließen durch Russland. Kasachstan ist wirtschaftlich abhängig von diesen Einnahmen", meint Umarov. So kann es schnell passieren, dass Russland die Pipeline außer Betrieb nimmt – wegen möglicher "Umweltschäden" heißt es dann offiziell.
Russland besitzt Wege, um Druck auf seinen Verbündeten in Zentralasien auszuüben. Kindler zufolge wird Kasachstan keinen komplett unabhängigen Weg einschlagen, dazu ist das Land ökonomisch zu sehr mit Russland verwurzelt.
Dennoch sieht Umarov eine positive Entwicklung. Und diese sollten die USA und die EU fördern. Sie sollten weiterhin mit Kasachstan kooperieren und die Demokratisierung vorantreiben. "In Kasachstan zeigen sich Zeichen, die in eine andere Richtung führen als andere Länder dieser Region."