Militärexperte warnt: Europas "Drohnen-Mauer" ist ein gefährliches Versprechen
Europa bereitet sich mit wachsender Nervosität auf mögliche Angriffe von russischen Drohnen vor. Seit Monaten verletzen unidentifizierbare Fluggeräte wiederholt den europäischen Luftraum, wie unter anderem deutsche und dänische Behörden bestätigten. Besonders brisant wurde es, als im September rund 20 russische Drohnen in den polnischen Luftraum eindrangen, was europaweit Alarm auslöste.
Seitdem diskutiert die EU über die Idee einer "Drohnen-Mauer": ein umfassendes Schutzsystem, das den Kontinent gegen Angriffe aus der Luft abschirmen soll.
Doch genau diese "Mauer" hält ein deutscher Militärexperte für ein gefährliches politisches Versprechen. Der Politikwissenschaftler Frank Sauer, Leiter der Forschungsgruppe im Strategischen Institut Metis an der Universität der Bundeswehr München, warnt davor, Europa mit dem Bild einer unverwundbaren Schutzwand in Sicherheit zu wiegen.
Seine Analyse ist unmissverständlich: Eine Strategie, die ausschließlich auf Verteidigung setzt, sei zum Scheitern verurteilt.
Was Europa unter der "Drohnen-Mauer" versteht
Ursprünglich, sagt Sauer im Interview mit dem russischen Exilmedium "Meduza", hätten europäische Politiker:innen eine Art massierte Drohnenflotte im Kopf gehabt, die im Ernstfall den Luftraum abschirmt. Heute steht der Begriff für ein System zur Erkennung, Klassifizierung und Bekämpfung feindlicher Drohnen. Doch schon die sprachliche Konstruktion sei problematisch.
"Der Ausdruck 'Drohnen-Mauer' ergibt keinen Sinn und führt nur in die Irre", sagt er. Der Sammelbegriff Drohne decke Geräte ab, die technisch und taktisch kaum vergleichbar seien: vom Quadrocopter in zwei Metern Höhe bis zu großen Systemen wie den russischen Typen Geran-2 und Gerbera. "Alle diese Typen erfordern unterschiedliche Verteidigungsmaßnahmen", betont Sauer.
Die Vorstellung eines unüberwindbaren Schutzwalls sei militärisch unrealistisch: "Die Idee eines Schutzwalls, hinter dem man sicher ist, ist nicht tragfähig. Man kann mit reiner Verteidigung keinen Sieg erringen."
Experte erklärt, warum reine Verteidigung scheitern wird
Sauer nennt zwei zentrale Gründe. Erstens die ökonomische Asymmetrie: Russland setzt billige, massenhaft verfügbare Angriffsgeräte ein, Europa reagiert mit extrem teurer Verteidigungstechnik. "Schutz ist immer teurer als Angriff mit vielen Einweg-Systemen. Eine reine Verteidigung entspricht wirtschaftlichem Selbstmord", sagt er. Zweitens reiche Verteidigung militärisch nicht aus.
"Die beste Verteidigung ist die Neutralisierung der Quelle der Bedrohung." Die Ukraine habe das erkannt und setze gezielt auf Angriffe tief im russischen Hinterland. Für Europa bedeute das: "Man muss fragen: Von wo starten die Drohnen? Wo stehen die Fabriken, die sie produzieren?"
Sauer fordert daher einen Paradigmenwechsel: nicht nur Abwehrsysteme maximieren, sondern die Fähigkeit stärken, russische Infrastruktur militärisch auszuschalten. Sein Urteil ist eindeutig: "Wenn sich die EU auf Verteidigung beschränkt, verliert sie den Krieg – selbst bei hundertprozentiger Verteidigungsfähigkeit."
Europas eigentliche Schwachstelle: politische Uneinigkeit
Für Sauer ist die Debatte der Beweis, dass die EU schlecht auf akute Sicherheitskrisen reagieren kann. Verteidigungsstrukturen lägen ohnehin auf Nato-Ebene, wo es bereits eine integrierte Luftverteidigung gibt.
Sollte unter Donald Trump die US-Unterstützung instabil werden, könnte Europa allerdings gezwungen sein, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Hinzu kommen Blockaden durch pro-russische Regierungen. "Diese Situation zeigt, warum die Verteidigung Europas nicht Aufgabe der EU sein sollte", sagt Sauer. Ungarn blockiere regelmäßig Maßnahmen gegen russische Aggression. Gleichzeitig patrouillierten bereits heute zusätzliche Nato-Jets in Polen und im Baltikum, unter anderem italienische und niederländische F-35.
Russland setzt auf psychologische Kriegsführung
Die Drohnenüberflüge dienten nicht nur der Aufklärung. "Der Kreml will das Verhältnis zwischen der Ukraine und ihren Verbündeten untergraben. Und er will westliche Länder gegeneinander aufbringen", sagt Sauer. Die Debatte darüber, ob russische Flugzeuge beim Eindringen abgeschossen werden dürften, habe gezeigt, wie tief Konflikte innerhalb der Nato sitzen.
"Solche Provokationen sind sinnvoll aus Sicht des Kremls, weil sie zeigen, wie uneinig die Nato ist." Das Problem sei nicht mangelnde Drohnenerkennung. "Unser Problem ist politischer Natur – Europa ist nicht ausreichend geeint."
Deutschlands Rolle – und der Faktor Zeit
Sauer bezeichnet Deutschland als das verwundbarste Land im europäischen Verbund. "Deutschland ist eines der zögerlichsten Länder in der EU im Umgang mit Russland und deshalb ein Hauptziel russischer Desinformation." Die Bundesrepublik sei ein ideales Terrain für Angriffe auf die europäische Entscheidungsfähigkeit, weil russische Strategen hier die größte politische Wirkung erwarten.
Ursache sei eine jahrzehntelang gepflegte Illusion in Berlin: "Unser Bild von Russland beruhte auf der blinden Hoffnung, dass Putin ein Freund Europas sei." Gleichzeitig habe Russland Städte wie Grosny "dem Erdboden gleichgemacht".
Die Kombination aus politischer Vorsicht, militärischen Engpässen und tief verankertem Friedensnarrativ mache Deutschland in Krisensituationen besonders nervös und damit leicht zu manipulieren. So nutze der Kreml gezielt gesellschaftliche Konfliktthemen, um Entscheidungen zu verzögern, die eigentlich dringend nötig wären.
Viele Politiker:innen argumentieren, Europa müsse bis 2029 verteidigungsfähig sein. Sauer hält diese Perspektive wie viele andere Expert:innen für gefährlich und überholt. Mit dem Eindringen russischer Fluggeräte in europäischen Luftraum sei der Konflikt bereits eskaliert.
Die kritischste Phase liege im Jetzt, weil Donald Trump bis 2029 Präsident bleibe und Europa seine Verteidigung nicht schnell genug ausbauen könne. Russland könne die kommenden Jahre nutzen, um Schwächen zu testen.
BND-Präsident Martin Jäger hatte gewarnt, Russland wolle Europa "durch Angst zu einem vorschnellen Aufgeben zwingen". Sauer teilt die Analyse – glaubt aber nicht, dass Europa kapitulieren wird. "Der Prozess läuft, nur langsamer, als notwendig wäre."
