In der Vergangenheit drohte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer wieder damit, eine neue Militäroffensive im Nachbarland Syrien durchzuführen. Jetzt will er seine Drohung offenbar wahr machen. Sein Ziel bleibt, ähnlich wie in den Militäreinsätzen zuvor: Kurdenmilizen zurückdrängen.
Die Türkei wolle die Orte Tall Rifat und Manbidsch von "Terroristen" der syrischen Kurdenmiliz YPG (Yekîneyên Parastina Gel), eine Volksverteidigungseinheit, "säubern". Das sagte Erdoğan vergangene Woche. Damit wolle er eine "neue Phase" im Bürgerkrieg in Syrien einleiten und "schrittweise" auch andere Regionen miteinbeziehen.
In Ankara gilt die Miliz als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und wird als Terrororganisation eingestuft. Die USA allerdings sieht die YPG vielmehr als Partner an, im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
Im Falle eines türkischen Angriffs wolle die Kurdenmiliz den Kampf gegen den IS einstellen, wie die YPG bereits ankündigte. Stattdessen wolle sie ihre "militärischen Maßnahmen" gegen die türkische Invasion richten, sagte ein Sprecher der von den Kurdenmilizen angeführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) der Nachrichtenagentur dpa.
Aus Protest gegen die türkische Offensive in Nordsyrien, haben Nato-Staaten, darunter Deutschland, und andere EU-Länder, wie Schweden, bereits 2019 ihre Rüstungslieferungen an die Türkei teilweise gestoppt.
Wie ist die Lage in Syrien aktuell? Und warum will Erdoğan ausgerechnet jetzt eine Militäroffensive in Syrien durchführen – während Russland gegen die Ukraine Krieg führt? Darüber hat watson mit Marcus Schneider, Auslandsmitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung für das Regionale Friedens- und Sicherheitsprojekt im Mittleren Osten, gesprochen.
"Die Lage in Syrien ist schlecht und hat sich zuletzt weiter verschlechtert", sagt Schneider. Subventionen seien weggefallen und die Preise für Brot und Grundnahrungsmittel gestiegen.
Seit 2011 bekämpfen sich verschiedene Gruppen im bewaffneten Bürgerkrieg in Syrien – mit fortschreitender Dauer auch unter Beteiligung von Drittstaaten. Dabei stehen die Streitkräfte unter dem Kommando des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bewaffneten Gruppierungen der Opposition in Syrien gegenüber. Der Auslöser des Bürgerkrieges war ein eigentlich friedlicher Protest gegen das autoritäre Regime Assads im Zusammenhang des Arabischen Frühlings Anfang 2011.
Der ursprüngliche Wunsch der Opposition, eine Demokratie in Syrien zu errichten, rückte in den Hintergrund. Stattdessen wurde der Kampf unterschiedlicher Organisationen aus religiösen und ethnischen Gründen wichtiger. Im Verlauf zerfiel das Land in verschiedene Gebiete: Sie wurden entweder von der Regierung, den Oppositionsgruppierungen, den Kurdenmilizen oder von Islamisten beherrscht.
Aus dem Bürgerkrieg wurde ein Stellvertreterkrieg. Assads Bündnispartner – der Iran mit seinen Revolutionsgarden, Russland mit seinem Militär und die libanesische Hisbollah-Miliz – beteiligten sich direkt am Konflikt. Und auch die USA schloss sich international mit weiteren Staaten zusammen, um die sunnitische Terrorgruppe IS zu bekämpfen.
Somit kämpften in Syrien der schiitische Iran gegen das sunnitische Saudi-Arabien und Katar. Und auch Russland und die USA rangen in Syrien um die Vormacht. Die Türkei griff seit 2016 ebenfalls zur Verhinderung kurdischer Autonomiegebiete mit Militäroffensiven in Nordsyrien in den Konflikt ein.
Schneider sagt:
Eine verstärkte politische Instabilität und sogenannte "Brotunruhen" seien nicht auszuschließen, sagt der Experte für den Mittleren Osten.
Idlib ist die letzte Region Syriens, die sich noch aktiv gegen Assad stellt. Der Westen ist mittlerweile aus der Provinz abgezogen. Nach elf Jahren Bürgerkrieg ist die Armut hier besonders hoch.
"Erdoğan versucht im Windschatten des Ukrainekrieges eigene Ziele voranzutreiben", sagt Schneider. Es gehe ihm letztlich darum, auf syrischer Seite ein in Ansätzen demokratisches und vor allem multiethnisches Projekt zu zerstören. Denn das könnte eine Anziehungskraft auf die kurdische Minderheit in der Türkei haben.
Die Situation für den angekündigten Militäreinsatz sei laut dem Experten günstig: Der Westen braucht Erdoğan als Bündnispartner gegen Russland. Denn ohne die Zustimmung der Türkei können die Beitrittskandidaten Schweden und Finnland der Nato nicht beitreten. Will ein Land dem Militärbündnis beitreten, müssen alle 30 Mitgliedsstaaten zustimmen. Erdoğan hatte in den vergangenen Wochen bereits Vorbehalte angekündigt.
Ein Schweigen gegenüber einem türkischen Militäreinsatz in Syrien würde laut Schneider global an der Glaubwürdigkeit des Westens kratzen. Mit dem Schweigen würden die westlichen Staaten nämlich quasi auf der einen Seite den türkischen Militäreinsatz in Syrien billigen – auf der anderen Seite aber Russland sanktionieren für den Angriff auf die Ukraine.
Schneider sagt:
Dazu kam es bereits: In den besetzten Gebieten Afrin und der bestehenden sogenannten Sicherheitszone zwischen Ras al-Ayn und Tel Abyad wurde vor allem die kurdische Bevölkerung vertrieben und die Regionen so "ethnisch gesäubert".
Bereits kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurden Vergleiche zu Syrien angestellt. Denn vieles, was der russische Präsident Wladimir Putin gerade in der Ukraine begeht – wie gezielte Angriffe auf Krankenhäuser oder Massaker an der Zivilbevölkerung – hat er bereits gemeinsam mit Baschar al-Assad im Bürgerkrieg in Syrien verübt.
Es gibt immer wieder Gerüchte darüber, dass Putin Soldaten aus den besetzten Grenzgebieten in Syrien abziehen und für die Ukraine rekrutieren wolle. Belege für eine tatsächliche Umsetzung fehlen aber.
Laut Schneider wären die Auswirkungen für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ohnehin gering. Denn aktuell sei keine wesentliche Anzahl russischer Streitkräfte in Syrien gebunden. Allerdings wären die Konsequenzen für Syrien stärker: Durch einen Teilrückzug Russlands könnten iranische Kräfte nachrücken.
Russland stellt aktuell in gewisser Weise den Puffer zwischen dem iranisch-israelischen Konflikt in Syrien dar. Würde das wegfallen, könnte es zu einer Eskalation kommen, sagt der Experte für den Mittleren Osten.
Während die Türkei in Syrien Rebellengruppen unterstützt, steht Russland auf der Seite des syrischen Präsidenten. Trotzdem passiert die angekündigte Militäroffensive Erdoğans offenbar mit Putins Segen.
Schneider sagt:
Russland würde die Türkei in ihrem Vorhaben unterstützen, da sie nicht bedingungslos auf der Seite des Westens stehe – sondern auch den russischen Interessen gegenüber offen sei, sagt Schneider. Zudem schwäche Erdoğan den Westen mit seinem Einmarsch in Syrien und der Blockade der Nato-Beitrittskandidaten.
Mit Sanktionen seitens der EU sei ebenfalls nicht zu rechnen, sagt Schneider. Zumindest würden die nicht mit denen gegen Russland vergleichbar sein. Aus den USA hingegen gab es deutlichere Kritik – aber auch hier seien harte Sanktionen unwahrscheinlich.