Im Gleichschritt sollen die kurzen Beine marschieren. So richtig will es nicht gelingen. An den Händen halten sich die Kinder fest und präsentieren sich in Reih und Glied vor dem Publikum, das ihnen zujubelt. Einige der Mädchen und Jungen tragen Soldatenkleidung mit dem typisch grünen Tarnmuster.
Laut Medienberichten fand diese Kindergarten-Militärparade in dem russischen Ort Tambow statt. Krieg spielen – eine wohl beliebte Beschäftigung in den pädagogischen Einrichtungen Russlands.
Mit der russischen Invasion in der Ukraine mehren sich Videos und Fotos von russischen Kindern in Uniformen und Panzern aus Karton oder bei inszenierten Militärparaden auf Social Media. Das Propagandazeichen "Z" darf dabei nicht fehlen.
Krieg spielen wird offenbar – auch abseits der Feier zum "Tag des Sieges" am 9. Mai – zum Alltag in Kindergärten. Der Kreml formt bereits die Kleinsten, alles und jeder muss seinen Platz einnehmen in der großen Kriegsmaschinerie, die Machthaber Wladimir Putin ausbaut.
"Putin hat das ganze Land auf Krieg umgebaut, vom Bildungs- und Wissenschaftssystem bis hin zur Wirtschaft", sagt Wirtschaftsexperte Michael Rochlitz im Gespräch mit watson. An der Oxford University beschäftigt er sich vor allem mit Russland. Laut ihm gelingt es dem Land momentan, die Ukraine gegen die Wand zu produzieren.
Schließlich verfüge Russland über große Ressourcen, materielle sowie menschliche. "Dagegen kann die Ukraine nur standhalten, wenn sie weiterhin massive Unterstützung aus dem Westen erhält", meint Rochlitz.
Doch warum werfen die westlichen Sanktionen Russland nicht aus der Bahn? Sie sollten die russische Wirtschaft schwächen und damit die Kriegsmaschinerie zum Erliegen bringen.
"Vor zwei Jahren ging man davon aus, dass die russische Wirtschaft einen schweren Einbruch erleben wird – dieser blieb allerdings aus", sagt der Experte. Im Gegenteil: Russland verzeichnete 2023 ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent; ein Trend, der sich auch dieses Jahr fortsetzen soll. Dafür gebe es mehrere Gründe.
Zum einen habe die russische Zentralbank sehr kompetent und schnell auf die Sanktionen reagiert. "Sie hat die russische Wirtschaft in ein künstliches Koma versetzt. Dadurch wurde die Lage zunächst stabilisiert", sagt Rochlitz.
Nach der Invasion stiegen zudem die Öl- und Gaspreise. Viele Länder konnten sich so schnell nicht aus der "Schlinge" Russlands befreien. Dadurch habe der Kreml zunächst gutes Geld verdient und damit die Sanktionen abgefedert.
"Zudem baute Russland zügig seine sogenannte Schattenflotte aus, mit der es Öl nach China und Indien transportiert", führt der Wirtschaftsexperte aus.
Schon seit 2012 habe Russland stark aufgerüstet und Reserven angelegt. "Seit Ende 2022 baut Putin nun die russische Wirtschaft auf eine Kriegswirtschaft um. Der Staat pumpt sehr viel Geld in den Rüstungsbereich und dadurch floriert die Wirtschaft." Das erinnere Rochlitz ein wenig an die 1930er Jahre in Deutschland, als Hitler begann, massiv aufzurüsten.
Kreml-Chef Putin verordnete etwa einen Rekordanstieg der Militärausgaben für das Jahr 2024. Mittlerweile fließen 30 Prozent des föderalen Haushalts in die Verteidigung. Diese enormen Investitionen des Staates in die Rüstung hinterlassen Spuren: Laut Rochlitz müssen sich dadurch private Unternehmen aufgrund der hohen Zinsen zunehmend zurückziehen.
"Die russische Industrie hat sich verändert, wobei der Verteidigungssektor die zivile Industrie in den Schatten stellt", verkündet Alexandra Prokopenko Anfang des Jahres in der Zeitschrift "Foreign Affairs". Sie ist eine ehemalige Mitarbeiterin der russischen Zentralbank.
Laut Rochlitz vollzieht sich in Russland ein Strukturwandel: "Bildungs-, Gesundheits-, Infrastruktursektor sowie langfristige Investitionen rücken in den Schatten." Russland baue sich eine große Rüstungsindustrie auf, wie man sie aus der damaligen Sowjetunion kenne.
Aus rein wirtschaftlicher Sicht sehe das natürlich gut aus; man weise drei bis vier Prozent Wachstum pro Jahr auf. Schließlich wird reichlich produziert: "Jeder Panzer, der im Krieg zerstört wird, muss ersetzt werden, das gilt auch für Granaten, Uniformen und so weiter." Rochlitz veranschaulicht den Prozess mit folgendem Beispiel:
Nach diesem System floriere derzeit Russlands Wirtschaft. Dabei steht sie laut Rochlitz aber nur auf zwei Beinen:
Alle weiteren wirtschaftlichen Standbeine seien durch die russische Invasion in der Ukraine weggebrochen. Das mache Russland verwundbar. Zudem stellt sich die Frage, was es für die Zukunft Russlands bedeutet, dass das Land massiv auf Kriegswirtschaft umsattelt.
"Es ist ein Teufelskreis: Man baut sich damit eine Lobbygruppe auf, also eine große Gruppe an Menschen, die direkt davon abhängen, dass Russland Krieg führt", sagt Rochlitz. Sowohl in der Rüstungsindustrie als auch in der Bürokratie. Demnach gebe es komplett neue Abteilungen in Ministerien, die diesen Rüstungskomplex verwalten.
Dies erinnere an das Schicksal der ehemaligen Sowjetunion, die sich langfristig den Rüstungsapparat nicht mehr leisten konnte und unter anderem daran zerbrach, meint Rochlitz.
Das Fazit laute daher: "Man braucht weitere Kriege, um die Sache am Laufen zu halten. Das heißt, Putin setzt auf einen langen Krieg gegen die Ukraine, bis sie ausblutet", sagt der Experte. Auch andere Länder könnten ins Visier geraten: etwa Kasachstan, Georgien oder die baltischen Staaten.
"Daher hängt jetzt vieles davon ab, wie sehr der Westen die Ukraine unterstützt", sagt Rochlitz. Schließlich sind Russlands Ressourcen auch nicht unendlich. Von der Größe her liege Russlands Wirtschaft ungefähr zwischen der Italiens und Frankreichs.
Russlands Kriegswirtschaft sei am Ende kein Erfolgsmodell, mit dem das Land langfristig den russischen Lebensstandard verbessert. "Dieser wird eher auf Dauer zurückgehen", prognostiziert Rochlitz. Demnach lenke Putin mithilfe des Krieges auch von den tatsächlichen Ursachen ab, warum es den Russ:innen schlecht geht im Land.
Auch der russische Wirtschaftswissenschaftler Igor Lipsits verkündete Ende 2023 gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: Die tatsächliche Situation in Russland sei schlecht. Lipsits bezog sich dabei sowohl auf die russischen Daten zum Ausmaß der Armut im Land als auch die allgemeine wirtschaftliche Lage.
Schon zuvor sprach der Ökonom von einer "dramatischen Abwärtsdynamik", in welcher sich die Wirtschaft außerhalb der Rüstungsindustrie im Vergleich zum Vorjahr befinden würde. Rochlitz zieht hier einen Vergleich zu Nordkorea. Auch dort gehe es den Menschen schlecht, aber es gebe diesen enormen Rüstungssektor, mit dem das Land noch immer eine Gefahr für Südkorea darstelle.
Die Realität zeigt: "Russland kämpft mit einer wirtschaftlichen Stagnation. Von 2014 bis 2022 ist die russische Wirtschaftskraft gerade mal um ein Prozent gewachsen", meint Rochlitz. Das sei viel zu wenig angesichts des Potenzials des Landes dank der geografischen Lage und gut ausgebildeten Bevölkerung.
Laut Rochlitz wirkt das autoritäre System schon seit langem wie eine Handbremse auf die Wirtschaft, weil es etwa keine dynamischen Anreize für Unternehmen bietet.