Er grinst. Sehr verhalten, aber er grinst, als er von Fans in New York empfangen wird. Er schüttelt Hände, lässt sich feiern. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist bereits am Freitag in der US-amerikanischen Großstadt angekommen. Der Grund: die dreitägige Konferenz der Vereinten Nationen. Die 77. UN-Generaldebatte.
Und Erdoğan ist mittendrin.
"Mittendrin" – dieses Wort beschreibt wohl am besten die Rolle des türkischen Präsidenten in der Weltpolitik. Immer wieder stellen sich Beobachter:innen die Frage: Wo steht Erdoğan, wo steht die Türkei eigentlich?
Waffenlieferungen aus Moskau – Waffenlieferungen nach Kiew. Vermittler im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – eigene bewaffnete Konflikte in Syrien und im Nordirak. Provokationen gegen die Nato – Beitrittswunsch für die Europäische Union.
Und jetzt: Erdoğan will Mitglied bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) werden. Einer Organisation, deren Mitglieder zu großen Teilen autokratisch geführte Staaten sind. Eine Organisation, die sich selbst als Gegenpol zur Nato positionieren will. Wichtige Mitglieder: China und Russland.
Ein türkischer Balanceakt, der für viele nur noch eines ist: verwirrend.
Die Hinwendung der Türkei zu Eurasien kann nicht als Gerede abgetan werden, sagt die Türkei-Expertin Tuba Eldem auf Anfrage von watson dazu. Eldem ist außerordentliche Professorin für Politikwissenschaft an der Fenerbahçe-Universität in Istanbul und Stipendiatin des "Center for Applied Turkey Studies" bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie sagt aber auch, diese Annäherung ist kein Vorbote einer großen Wende.
Die Türkei sei schon länger an der SCO interessiert. Bereits 2011 begannen sich Europa und die Regierung Erdoğan zu entfremden. "Die Europäisierungs-Vision ist gescheitert", sagt Eldem. Und sie sieht dabei eine große Mitschuld der EU.
"Die Politik der EU gegenüber der türkischen Mitgliedschaft war seit der Anerkennung der türkischen EU-Beitrittskandidatur durchweg ambivalent." Es sei der EU nicht gelungen, einen Anreiz für eine starke Reformpolitik zu schaffen – und das, obwohl Erdoğan einige Jahre mit Westeuropa geliebäugelt habe.
Das habe an der Glaubwürdigkeit der EU gekratzt. Und: "Dieser Rückgang der Glaubwürdigkeit hat nicht nur dazu geführt, dass die Regierung Erdoğan ihren Enthusiasmus für die Europäisierung und die Demokratisierungsreformen verloren hat. Er hat auch den Weg für die Suche nach neuen Optionen geebnet."
Auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments, David McAllister (CDU), sagt gegenüber watson: "Die außenpolitische Strategie von Erdoğan ist es, sich alle Optionen offenzuhalten." 2011 beantragte die Türkei den Status einer Dialogpartnerschaft bei der Shanghaier Organisation – 2012 wurde ihr Wunsch erfüllt.
Jetzt will sie aber mehr: Sie will Mitglied sein.
Doch selbst wenn die SCO Gegenpol zum westlichen Verteidigungsbündnis Nato sein will: Erdoğan sieht das laut Expertin Eldem anders. Sie sagt:
2013 habe der damalige türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu erklärt: "Wenn unser Weg in Richtung EU frei ist, werden wir unsere strategischen Ziele weiterverfolgen; wenn nicht, werden sie ihren Weg gehen und wir den unseren. Wir werden dann sehen, in welche Richtung alle gegangen sind."
Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth sieht das anders. Die SCO stehe "in ihren Werten und Zielen der Nato diametral entgegen", sagte Roth dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Eine türkische Mitgliedschaft wäre somit eine klare Abkehr vom Sicherheitsbündnis Nato."
Auch McAllister sagt auf watson-Anfrage: "Die Türkei hat den Anspruch, eine Regionalmacht an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien zu sein. Durch eine weitere Annäherung an die SCO würde sich der Nato-Bündnispartner weiter vom politischen Westen abwenden."
Dennoch seien EU und Nato an einer Lösung interessiert.
Doch er meint:
Die Türkei von heute sei nicht mit der Zeit zu vergleichen, als das Land 1999 EU-Beitrittskandidat wurde. "Sie hat sich von unseren europäischen Werten immer weiter entfernt."
Die Beitrittsverhandlungen liegen auf Eis.
Es ist aber nicht bloß Ärger mit Europa, der die Türkei in die Arme der SCO treibt. Erdoğan hat auch wirtschaftliche Interessen. Eldem sagt dazu: "Die Türkei verfügt über wachsende Verkehrs-, Handels- und Energieverbindungen zu den türkisch geprägten ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien." Gleichzeitig nehme die Zusammenarbeit mit China zu. "Ankara möchte die geoökonomischen Verbindungen mit Asien diversifizieren, ohne die geopolitische Partnerschaft mit der Nato zu gefährden."
Da ist er wieder: der Balanceakt.
Doch laut Eldem sieht Erdoğan hier keinen Widerspruch. "Der eine bietet wirtschaftlichen Wohlstand und der andere Sicherheitsgarantien." Der "Marsch Richtung SCO", wie ihn Eldem nennt, hat wirtschaftliche Hintergründe.
Außerdem, sagt Eldem, ist es noch ein langer Weg, bis die Türkei Vollmitglied wird. "Sie hat offenbar nicht mal einen formellen Antrag auf einen Beobachterstatus gestellt." Dies zeige, dass Ankara, nicht völlig überzeugt sei, dass es in seinem nationalen Interesse liegt, sich weiter vom Westen zu entfernen.
Eldem meint:
Dann wäre da aber noch der Krieg in der Ukraine. Auch hier ist vielen bis heute nicht klar, wo Erdoğan steht. In einem Interview mit dem US-Sender PBS am Rande der UN-Generalversammlung in New York sagt er, alle von Russland besetzten Gebiete müssten an die Ukraine zurückgegeben werden – auch die Krim. Gleichzeitig nennt er den russischen Präsidenten seinen "lieben Freund Putin".
Außerdem will er eben der SCO beitreten – einem Bündnis mit führender russischer Rolle. Erdoğan und Putin kennen sich seit vielen Jahren. Sie schätzen sich, respektieren einander. Beide lehnen den Westen ab – der eine mehr, der andere weniger.
Doch die Türkei-Expertin Eldem betont vor allem die gegensätzlichen Interessen.
Die Türkei habe sich als strategisches Gegengewicht zu Russland im Schwarzmeerraum, im Südkaukasus, im Nahen Osten, in Afrika und in Zentralasien erwiesen. Mit der Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan habe sie strategische Partnerschaften geschlossen. "Damit ist Ankara in der Lage, ein wirksames Gegengewicht zur russischen Einflussnahme im postsowjetischen Raum zu schaffen", meint Eldem.
Und nicht nur dort: Auch im Nahen Osten, etwa in Syrien und Libyen, stehen Russland und die Türkei auf gegnerischen Seiten. Die Frage also, ob Erdoğan nun doch eher zu Russland hingezogen fühlt, beantwortet Eldem so:
(Mit Material der dpa)