Die deutsche Parteienlandschaft wächst. Bereits bei der Bundestagswahl 2021 waren insgesamt 53 Parteien zur Wahl zugelassen. Darunter die etablierten Parteien SPD, Grüne, FDP, Union sowie Linke und AfD, aber auch Klein- und Kleinstparteien, wie die Urbane, Volt oder die Piraten. Bereits 2021 war zu beobachten: Das Parteienspektrum wächst gerade im Bereich der Grünen-Parteien und dem rechten Lager.
Mit dem frisch gegründeten Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der Werteunion, sind nun zwei weitere Parteien dazugekommen. Einmal eine konservative Ausgründung der Linken und eine rechte Ausgründung der Union. In einem früheren Gespräch mit watson hat der Parteienforscher Benjamin Höhne prognostiziert, dass sich dadurch Regierungsbildungen – besonders auf Länderebene – erschweren könnten.
Gerade der Wagenknecht-Partei rechnet er das Potenzial zu, Stimmen der AfD wegzuklauen. Nach aktuellen Umfrageergebnissen käme BSW auf vier bis acht Prozent, die Werteunion wird wohl unter den vier bis neun Prozent "Sonstige" subsumiert. Die FDP müsste, mit vier bis sechs Prozent, um einen Wiedereinzug in den Bundestag fürchten und die Linke wäre mit zwei bis vier Prozent sehr sicher draußen.
Wahlumfragen stellen eine Momentaufnahme dar. Unklar bleibt, wie sich Wähler:innen in der konkreten Situation an der Urne tatsächlich entscheiden. Doch mit Blick auf die Tatsache, dass bereits 2021 8,6 Prozent der Wähler:innen-Stimmen unter "Sonstige" liefen, und damit 3,6 Prozentpunkte mehr als 2017, stellt sich die Frage: Ist die Fünf-Prozent-Hürde noch zeitgemäß?
Aus Sicht von Michael Koß hat sich die Fünf-Prozent-Hürde in der Vergangenheit bewährt. Koß ist Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Leuphana Universität in Lüneburg. Auf watson-Nachfrage erklärt er, die Beschränkung habe situative Anliegen, wie etwa die Piraten-Partei aus dem Bundestag ferngehalten. Gleichzeitig habe sie strukturell verankerten Parteien, wie den Grünen oder der AfD den Zugang nicht verwehrt.
Er ist zuversichtlich, dass auch die Werteunion oder das Bündnis Sahra Wagenknecht nicht an der fünf-Prozent-Hürde scheitern werden – zumindest dann, wenn sie über eine strukturelle Verankerung verfügen. Damit meint er eine gewisse Anzahl an Mitgliedschaften, organisatorische Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und das Aufgreifen bislang vernachlässigter inhaltlicher Anliegen.
Die Hürde setze zudem Anreize für die größeren Parteien im Bundestag, vernachlässigte Anliegen zu vertreten, meint Koß. Er sagt dazu: "Zum Beispiel dürfte der Union daran gelegen sein, weiter in die rechte Mitte zu rücken, um Freie Wähler und Werteunion draußen zu halten."
Die Fünf-Prozent-Hürde führe zudem dazu, dass Parteien den Bundestag auch wieder verlassen: etwa, wenn das ideologische Fundament bröckele, Koß nennt hier die FDP. Oder, wenn das Organisationsnetzwerk wegbreche, hier nennt der Experte die Linke. Er fasst zusammen:
Auch Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder spricht sich im Gespräch mit watson für die Beibehaltung der aktuellen Hürde aus. Er ist ebenfalls Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Uni Kassel. Eine Debatte über die 5-Prozent-Hürde sei bereits 2013 geführt worden: Als die FDP das letzte Mal aus dem Bundestag geflogen und die AfD nicht reingekommen ist.
Damals seien dadurch fast 15 Prozent der Wählerstimmen nicht berücksichtigt worden, führt Schroeder aus. Es gehe bei der Frage von Sperrklauseln und Hürden immer um eine Balance: Das Parlament habe sowohl die Aufgabe der Repräsentation sowie der Stabilität. So solle durch Wahlen zwar sichergestellt werden, "dass am Ende eine umfassende Repräsentation der unterschiedlichen Interessen der deutschen Bevölkerung im Parlament gegeben ist."
Diese lasse sich laut Schroeder aber nicht allein durch die Abbildung der Bevölkerungsstruktur herstellen. Hinzu komme, dass weite Teile der Bevölkerung ohnehin nicht repräsentiert würden, weil sie entweder Nichtwähler:innen sind – oder wegen ihrer Staatsbürgerschaft nicht in Deutschland wählen dürfen. Vielmehr gehe es auch darum, dass die wesentlichen Interessen durch jene Parteien, die am Ende im Parlament arbeiten, vertreten werden.
Aus Sicht von Schroeder bietet Deutschland durch sein föderales System viele Möglichkeiten, dass sich die Bürger:innen politisch artikulieren können. "Es ist außerdem nicht so, dass Interessen unter den Tisch gekehrt werden", sagt Schroeder und fährt fort: "Der Anspruch an das Parlament ist, die vorhandenen und relevanten Interessen in Gänze abzubilden." So würden etwa Union oder auch die SPD Teile der Interessen von FDP-Wähler:innen vertreten, wenn die Liberalen ausscheiden. Wegfallen würden die Interessen also nicht gänzlich.
Am Ende komme es aber aus Sicht des Experten auch darauf an, dass eine stabile Koalitionsbildung möglich ist. Das werde schwieriger, je mehr Parteien Teil des Parlamentes sind. Schroeder sagt:
In der aktuellen Situation könnte sich der Politikexperte allerdings vorstellen, dass die Abschaffung der Sperrklausel eine Zerfaserung des Parlaments noch befeuern könnte. Die Bildung einer Mehrheitsregierung in einem Parlament, das aus SPD, Grünen, FDP, Linken, BSW, Union, Freien Wählern und AfD besteht, könnte schwer werden.
Das politische System legitimiere sich laut Schroeder nicht nur durch die Repräsentation und Akzeptanz der Bevölkerung – sondern auch durch seine inhaltlichen Ergebnisse. Das bedeutet: Die Regierenden müssen Ergebnisse vorweisen können.
Viele haben beim Gedanken an die fünf-Prozent-Hürde automatisch die Weimarer Republik im Kopf: Eine Zerfaserung des Parteiensystems, unsichere Regierungsbildungen, die Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Schroeder widerspricht diesem Mythos: Die Sperrklausel sei erst 1953 eingeführt worden. Und zwar von der Union, die damals die Mehrheit im Bundestag stellte.
Das Argument: Effizienz und Funktionalität. Wie also die Wahlrechtsreformen, die in den Jahren danach vollzogen wurden, ebenfalls argumentiert werden.