Sie rufen "Wir wollen Freiheit", "nieder mit Xi Jinping", halten weißes Papier in die Höhe, verlangen das Zurückrudern der Regierung in ihrer repressiven Corona-Politik.
Massenweise strömten am Wochenende chinesische Bürger:innen auf die Straßen verschiedener Städte in der Volksrepublik. Angefangen hatte es mit einem Protest von Arbeiter:innen eines Apple-Werks, die auf dem Fabrikgelände eingesperrt waren – wegen Corona.
Doch der Auslöser war ein anderer:
Ein Hochhaus in der Stadt Ürümqi, der Regionalhauptstadt der hauptsächlich von Uiguren bewohnten Provinz Xinjang, brannte am Freitag lichterloh. Zehn Menschen erstickten oder verbrannten bei diesem Unglück. Offenbar hatte die Feuerwehr einen erschwerten Zugang zum Gebäude aufgrund einer Straßensperre – die wegen Corona aufgestellt wurde. Auch das Hochhaus selbst stand wohl unter einem Lockdown.
Seither gehen Tausende Menschen in China auf die Straßen. Und das, obwohl sie mit heftigsten Strafen zu rechnen haben.
Ein seltenes Bild in China. Diese Proteste. Seit über 30 Jahren hat es so etwas nicht mehr gegeben. Aber: Wird sich deshalb etwas ändern?
China ist ein autoritär geführter Staat. Eine Diktatur. Hier gibt es weder Versammlungs- noch Meinungs- oder Pressefreiheit. Proteste sind in der Volksrepublik per se verboten. Allein die Organisation kann mit einer Gefängnisstrafe von mehreren Jahren bestraft werden. Dennoch ist das chinesische Volk ein Volk, das viel protestiert. Tatsächlich finden dort täglich dutzende, manchmal sogar hunderte Proteste statt.
Wie ist das möglich?
Diese Demos richten sich in den meisten Fällen nicht gegen das System. China hat eine materiell geprägte Protestkultur. Menschen gehen auf die Straße, wenn sie sich von einem Unternehmen, einem Immobilieninvestor oder von Regionalregierungen über den Tisch gezogen fühlen. Oft fallen dort sogar lobende Worte für die herrschende Kommunistische Partei Chinas.
All das erklärt der Soziologe Christian Göbelin in einem Journal für die Bundeszentrale für politische Bildung. Göbel ist Professor für Sinologie an der Universität Wien.
"Proteste werden beispielsweise von Wohnungskäuferinnen initiiert, die von Immobilienfirmen betrogen werden, von Wanderarbeitern, denen man ihren Lohn vorenthält oder von Investorinnen, die ihre Ersparnisse verloren haben", schreibt Göbel etwa. Statt gegen gut vernetzte Eliten ein teures und aussichtsloses Gerichtsverfahren anzustrengen, versuchten sie, die Regierung zum Handeln zu zwingen.
Also nichts, wovor sich das Regime Xi Jinping fürchten müsste.
Doch auch in China gab es Ausnahmen von der regierungstreuen Protestkultur. Die letzte Bewegung dieser Größenordnung ist allerdings 33 Jahre her.
Ab Mai 1989 demonstrierten anfangs nur Studierende, später Menschen verschiedener Bevölkerungsschichten in Peking für mehr Demokratie. Mitte Mai kamen täglich fast eine Million Menschen auf den Tian’anmen-Platz. Doch die Proteste endeten in einem Massaker. Das chinesische Regime, damals unter Staatspräsident Yang Shangkun, stürmte die Versammlungen militärisch und schlug sie blutig mit dem Einsatz von Panzern nieder – weltweit ist dieses Ereignis als Tian’anmen-Massaker bekannt.
Auf dem Platz selbst starben zwar keine Menschen, vielmehr trug sich das Massaker in mehreren anderen Teilen der Stadt zu. Berichten des chinesischen Roten Kreuzes zufolge kamen insgesamt 2600 Menschen ums Leben. 7000 sollen verletzt worden sein.
Doch von mehr Demokratie keine Spur.
Gerade vor diesem Hintergrund sind die derzeitigen Proteste so bemerkenswert. Wer in China gegen das Regime demonstriert, hat mit heftigen Strafen zu rechnen. Proteste solcher Art sieht das Regime als Hochverrat an.
Dennoch trauen gerade sich die Menschen auf die Straßen. Ein Reporter des "Spiegel" sprach in Shanghai mit einem Teilnehmer. Diesen zitiert das Magazin mit den Worten: "Die können uns mal. Wir tun das Richtige. Scheiß auf die Abriegelungen." Dann soll er seinen Mittelfinger gezeigt haben.
Aber werden die Proteste etwas nutzen?
Expert:innen gehen von keinen systemischen Veränderungen aus. Etwa der China-Experte Daniel Mattingly von der US-Universität Yale. Er meint gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg, dass das Ausmaß der aktuellen Unruhen weit entfernt sei von denen im Jahr 1989. Solange der Staatspräsident Xi Jinping die chinesische Elite und die Armee auf seiner Seite habe, gebe es kaum nennenswerte Angriffe auf seine Macht zu befürchten.
Und über einen Regimewechsel brauche man in China schon mal gar nicht nachdenken, meint der Professor an der Yale Law School, Zhang Taisu, auf Twitter. Doch er sagt auch: "Den chinesischen sozialen Medien nach zu urteilen, ist der Verlust des politischen Vertrauens in der allgemeinen Bevölkerung ziemlich weit verbreitet und wahrscheinlich langwierig."
Dennoch rechnet er nicht damit, dass in den kommenden Tagen weitere groß angelegte Demonstrationen stattfinden werden. Dafür habe die Regierung zu viel Macht.
Experte Mattingly ist auch der Überzeugung, dass die Proteste die Kommunistische Partei zu einer harten Reaktion zwingen. Vermutlich werde die Antwort der Partei aus Repression bestehen, und Demonstranten verhaftet und verurteilt werden.
Tatsächlich hat es bereits nach den ersten Protesten am Samstag mehrere Verhaftungen gegeben. In chinesischen Städten finden sich an jeder Ecke Kameras, deren Gesichtserkennung sogar mit Corona-Maske noch einwandfrei funktionieren.
Etwas optimistischer ist der Politikwissenschaftler und Ostasien-Experte Eberhard Sandschneider. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagt er, die Kommunistische Partei habe sich mit ihrer Null-Covid-Politik verrannt. Sie habe sich als unfähig erwiesen, ihre Politik zu verändern, auch wenn sich seit Beginn der Pandemie 2020 die Erkenntnisse und die Situation verändert hätten.
Die Proteste, die momentan auf den Straßen Chinas herrschen, könnten für den Parteichef und Staatspräsident Xi gefährlich werden – zumindest, was sein Image angeht. "Xi Jinping hat sich mit der Null-Covid-Politik selbst verbunden", meint der Politikwissenschaftler.
Und weiter:
Trotzdem, meint Sandschneider, sei Xi nicht allmächtig.
Auch innerhalb der Partei gebe es verschiedene Strömungen, Fraktionen und Machtstrukturen. Innerparteilich gebe es also auch Gegner Xis, die Einigkeit des chinesischen Regimes sei eine Fassade. "Diese Parteifassade hat Risse", meint der Ostasien-Experte. "Und am Wochenende wurde deutlich, dass diese Risse innerparteilich, aber auch gegenüber der Bevölkerung aufbrechen."
China sei nicht das stabile, in sich gefestigte politische Regime, als das es sich nach Außen darstelle.
Auch die Art der Proteste seien bemerkenswert und könnten sich noch zu etwas Größerem entwickeln, deutete der Politikwissenschaftler an. Denn diesmal seien keine reinen politischen Debatten Auslöser der Demonstrationen. "Sondern das sind Nöte von Menschen, die tagtäglich größer werden. Und aus diesen Nöten heraus entsteht diese Protestbewegung – und das macht sie letztendlich für die Kommunistische Partei durchaus gefährlich."
Dennoch vermag Sandschneider es nicht, eine Prognose abzugeben: Wird das Regime seinen Corona-Kurs ändern oder nicht? Es bleibt spannend.