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EU-Wahl 2024: Wie Putin Belarus-Flüchtlinge erneut schamlos ausnutzt

May 28, 2023, Bialowieza, Podlaskie, Poland: Migrants with children seeking asylum are seen at the Belarusian side of the Polish border wall in Bialowieza. A group of 30 migrants and refugees from Ira ...
Geflüchtete an der belarussisch-polnischen Grenze.Bild: imago images / zuma wire
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Putin nutzt Belarus-Flüchtlinge erneut schamlos aus – Angriff auf EU-"Achillesferse"

02.06.2024, 14:46
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Russlands Krieg in Europa begrenzt sich mittlerweile nicht mehr nur auf die Invasion in der Ukraine. Zum einen zeigt der Kreml immer offener seine Expansionsinteressen auf dem Baltikum und in der Ostsee. Infolgedessen rüstet etwa Schweden seine Insel Gotland seit einigen Monaten auf, um sich vor einem möglichen Angriff zu verteidigen.

Zum anderen versucht Russlands Präsident Wladimir Putin schon sehr lange die Länder der Europäischen Union über sogenannte "hybride Kriegsführung" zu schwächen. So leitet Russland etwa über seinen Juniorpartner Belarus seit 2021 im großen Stile Flüchtlinge in die EU.

Nachdem die Anzahl der Geflüchteten zwischendurch sank, steigt sie nun nach neuesten Recherchen wieder an. Doch was bewirkt Wladimir Putin damit? Und wie könnte die Europäische Union darauf antworten?

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Belarus: Erneuter Anstieg der Geflüchtetenzahlen in die EU

Wie der WDR, NDR und die Süddeutsche Zeitung (SZ) recherchiert haben, kommen derzeit wieder vermehrt Geflüchtete über Belarus und Polen nach Deutschland. Demzufolge hätte die Bundespolizei im Januar und Februar noch jeweils weniger als 30 Geflüchtete registriert, die über diese Route kamen. Im April seien es dann 670 gewesen, im Mai bis zur Monatsmitte bereits 416.

Die Hälfte von ihnen besitze ein russisches Visum. Sie sollen in ihren Heimatländern größtenteils mit russischen Kurzzeit-Visa ausgestattet und nach Moskau oder St. Petersburg geflogen worden sein. Von da aus sei es nach Belarus weitergegangen sein. Und dann nach Polen in die EU.

Zu Hochzeiten schleusten Russland und Belarus im Sommer und Herbst 2021 über 100 Personen täglich über die polnische Grenze. Derzeit ist die Lage also trotz des Anstiegs noch deutlich entspannter. Dennoch bleibt die Frage, warum Putin und sein belarussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko nun erneut eine Offensive starten.

Russlands Kalkül – EU-Wahl 2024 als möglicher Grund für Anstieg

Der Zeitpunkt kurz vor der Europawahl ist auffällig. Bereits in den letzten Monaten tauchte Russland als einflussreicher Player im Wahlkampf auf: Mehrere europäische Politiker, darunter der AfD-Listenzweite Petr Bystron, sollen vom Kreml-nahen Netzwerk "Voice of Europe" Bestechungsgelder erhalten haben. Auch AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah steht mit dem Netzwerk in Verbindung.

Schon in den vergangenen Jahren hat Putin versucht, Einfluss auf die europäische Politik zu erlangen. Er unterstützte rechtspopulistische und Anti-EU-Parteien, um die EU zu schwächen. Da liegt es nahe, dass nun auch der Anstieg der von Russland in die EU geleiteten Flüchtlinge Chaos stiften und Einfluss auf die Europawahl nehmen soll.

Gegenüber der SZ hat ein hochrangiger Sicherheitsbeamter die Vermutung aufgestellt, Putin könne versuchen, die Stimmung speziell in Deutschland im Superwahljahr zu beeinflussen. Nach der Europawahl im Juni stehen die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September an.

Doch inwiefern nützt es Putins Belangen, wenn mehr Flüchtlinge in der EU ankommen? Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hat darauf eine prägnante Antwort: "Die ungelöste 'Migrationsfrage' ist längst zur Achillesferse der EU geworden." Diese Schwäche nutze das russische Regime.

Putin nutzt laut Expertin die Furcht der EU

Kohlenberger beschäftigt sich unter anderem in ihren zwei kommenden Büchern "Grenzen der Gewalt" und "Gegen die neue Härte" mit den Folgen der europäischen Abschottungspolitik. Sie sagt, dass sich die EU "vor nichts mehr fürchtet als vor der Ankunft Schutzsuchender."

Es mangele ihr an Instrumenten und Regularien, um mit Geflüchteten umzugehen. Putin habe das erkannt und nutze es "schamlos aus, auf dem Rücken der Schwächsten".

Syrian migrants in the forests of Poland after crossing illegally the border from Belarus. A polish border guard checks two syrian refugees under a plastic cover in the forests of Poland. They ask for ...
Im Winter 2021 sahen sich viele Flüchtlinge dazu gezwungen, in polnischen Wäldern zu zelten.Bild: imago images / nurphoto / Celestino Arce

Er lässt Geflüchtete einfliegen und nutzt sie als Mittel zum Zweck, um die EU zu schwächen. Doch auch die Europäische Union selbst trägt zu einem menschlichen Umgang mit Flüchtlingen nur wenig bei. Und so finden sich diese als Spielball zwischen den Fronten wieder.

Die Bilder der belarussisch-polnischen Grenze, die im Sommer 2021 durch die Medien kursierten, verdeutlichen das nur zu gut. Die Folgen der Sperrzone für die betroffenen Menschen war damals dramatisch. Teilweise "irrten sie oft wochenlang im Grenzgebiet umher. Weder ließ Polen die Menschen hinein, noch ließ Belarus sie wieder zurück", wie es der "Spiegel" beschreibt.

EU: Falsche Narrative rechtfertigen Umgang mit Geflüchteten

Auch in ihrer Kommunikation über Geflüchtete trage die Europäische Union zum Problem bei, so Kohlenberger.

Das Schleusen von Flüchtlingen in die EU bezeichnen etwa viele Politiker:innen und Sicherheitsexpert:innen als Teil von Russlands "hybrider Kriegsführung". Der Gedanke dahinter leuchtet zwar ein: Putin will damit die EU-Staaten gegeneinander aufbringen, immerhin ist Asylpolitik seit Jahren eins der größten Streitthemen in der EU.

RUSSIA, LENINGRAD REGION - JANUARY 27, 2024: Russia s President Vladimir Putin L and Belarus President Alexander Lukashenko attend the unveiling of a WWII memorial to the Nazi genocide victims in the  ...
Geflüchtete als Putins und Lukaschenkos Waffen? So einfach ist es nicht.Bild: imago images / itar-tass

Auf der anderen Seite jedoch werden Geflüchtete durch diesen Ausdruck und das dahinter stehende Narrativ entmenschlicht. Kohlenberger meint:

"Von denjenigen, auf die mit Schlagstöcken eingeprügelt und mit Tränengas geschossen wird – denn das geschieht an den Grenzen häufig – als 'Waffen' zu sprechen, mutet zynisch an."

Dieses Narrativ werde wiederum zur Rechtfertigung genutzt. Kohlenberger bringt die so entstehende Logik auf den Punkt: "Was soll die arme EU auch sonst machen, als diese Migranten, die ja Waffen sind, zurückzuweisen?"

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So werde Asylpolitik zum innenpolitischen Kampfthema gemacht. Es gehe nicht um Lösungen, "sondern darum, das Problem für Stimmungsmache aufrecht zu erhalten."

Dabei sei die EU sehr wohl in der Lage, Putins Destabilisierungsversuche völkerrechtskonform zu entschärfen und zu kontern. "Nämlich indem in rechtsstaatlichen Verfahren und durch Individualfallprüfung entschieden wird, wer bleiben darf und wer rückgeführt werden muss."

Sprich: Einfach normale Asylverfahren anwenden. Das sehe auch die Genfer Flüchtlingskonvention so vor.

Kohlenberger erinnert daran: Auch nach Russlands Einmarsch in der Ukraine waren Millionen von vertriebenen Ukrainer:innen im Frühling 2022 auf der Flucht. Und auch damals habe Putin diese Fluchtbewegung aus Kalkül nutzen wollen.

Dies sei jedoch nicht gelungen. "Da sich Europa auf die unbürokratische temporäre Aufnahme der ukrainischen Vertriebenen einigen konnte, liefen seine Destabilisierungsversuche ins Leere."

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