Das Gesicht des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zwischen zwei israelischen Flaggen.Bild: dpa / Ilia Yefimovich
Analyse
Der Ministerpräsident ist im Begriff, die Kontrolle über seine Regierung zu verlieren – und über sein Land.
Philipp Löpfe / watson.ch
In der "New York Times" bringt es Thomas Friedman auf den Punkt: "Israel hat noch nie gleichzeitig drei Intifadas erlebt, eine der Palästinenser, eine der Siedler und eine seiner Bürger. Doch genau dies spielt sich ab, seit die rechtsradikale Regierung von Netanjahu an der Macht ist."
Der Aufstand der Palästinenser und derjenige der Siedler hängen zusammen. Nachdem israelische Soldaten bei einer Aktion gegen palästinensische Terrorverdächtige mehrere Menschen getötet hatten, revanchierten sich die Palästinenser, indem sie zwei Juden in den Siedlungsgebieten umbrachten. Dies wiederum hatte am vergangenen Montag einen Rachefeldzug der Siedler zu Folge, bei dem in palästinensischen Dörfern Häuser niedergebrannt und Läden zerstört wurden.
160.000 Menschen protestierten in Tel Aviv gegen die geplante Justizreform.Bild: AP / Oded Balilty
Netanjahu hat zwar diese Aktionen in der Knesset, dem israelischen Parlament, verbal verurteilt. Doch Wirkung erzielte der Ministerpräsident dabei nicht. Die rechtsextremen Mitglieder seiner Regierungskoalition kümmerten sich keinen Deut darum und blieben der Sitzung ganz einfach fern. "Rings um ihn fliegen die Einzelteile in die Luft", erklärt daher Anshel Pfeffer, ein Biograf von Netanjahu, in der "New York Times". "Netanjahu hat seine wichtigste Waffe verloren – die ruhige, stabile und feste Hand am Steuer zu sein."
Während Aufstände der Palästinenser und der Siedler traurige Routine in Israel geworden sind, ist die Intifada der Zivilgesellschaft etwas Neues – und brandgefährlich. Darum geht es.
Israel hat keine Verfassung und bloß eine Kammer im Parlament. Daher spielt das Oberste Gericht eine Schlüsselrolle in Politik und Gesellschaft. Die Regierung von Netanjahu will nun die Macht des Gerichts beschränken. Sie will ein Gesetz durch die Knesset peitschen, das die Regierung ermächtigt, die Mitglieder des Obersten Gerichts zu ernennen und ihr missliebige Entscheide zu überstimmen.
Selbst der Geheimdienst ist gegen die Reform
Die altgediente Politikerin Tzipi Livni, selbst Mitglied von Netanjahus Likud-Partei, kommentiert dies in der "Financial Times" wie folgt: "Es ist mehr als eine Reform des Justizwesens. Es geht um unsere Identität. Es ist ein Kampf um die Seele Israels und die Demokratie."
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Die geplante Justizreform hat zu einem Aufstand der liberalen Zivilgesellschaft geführt. 160.000 Menschen gingen am vergangenen Wochenende auf die Straße – darunter hohe Beamte, pensionierte Zentralbanker, Ärzte, Architekten und Akademiker –, um gegen die geplante Justizreform zu protestieren. Auch im Hi-Tech-Sektor wächst der Widerstand. Es wird befürchtet, dass der Zufluss von ausländischem Geld versiegen und die blühende Start-up-Szene verdorren wird.
Selbst mehrere ehemalige Chefs des Geheimdienstes Mossad haben sich dagegen ausgesprochen. 250 Offiziere der Division für militärische Spezialoperationen haben gar in einem öffentlichen Brief verkündet, sie würden den Dienst verweigern, sollte die geplante Justizreform Tatsache werden.
Der Kern dieser Reform ist nicht juristischer Natur, es handelt sich vielmehr um einen seit Jahrzehnten tobenden Machtkampf zwischen religiösen Fundamentalisten und Liberalen. Ivo Spiegel, ein vor 30 Jahren aus der Schweiz nach Israel ausgewanderter Neurologe und bekennender Zionist, erklärt denn auch in der "Financial Times": "Es handelt sich um eine geplante Kampagne, um alle zu verfolgen, die nicht mit der rechtsextremen, grenzwertig faschistischen Weltsicht übereinstimmen."
Frauen protestieren im Kostüm der dystopischen TV-Serie «The Handmaid's Tale".Bild: www.imago-images.de / Matan Golan
Die Fundamentalisten sehen derweil im Obersten Gericht eine Waffe der Progressiven, welche einen jüdischen Staat nach ihren Vorstellungen verhindert. Simcha Rothman, ein Abgeordneter der religiösen zionistischen Partei, die vom rechtsextremen Betzalei Smotrich angeführt wird, erklärt ebenfalls in der "Financial Times": "Was mich, einen ultraorthodoxen, religiösen Zionisten und einen säkularen Politiker wie Netanjahu vereint, ist die tiefe Überzeugung, dass Israel für immer die Heimat des jüdischen Volkes sein soll."
Rothman argumentiert weiter so, wie alle Rechtspopulisten weltweit argumentieren. Er wettert gegen eine angebliche liberale Elite und beruft sich auf den angeblichen Volkswillen. "Die Zeit ist gekommen, wo wir uns entscheiden müssen, ob wir wollen, dass unser Land vom Volk oder seinen Richtern regiert wird", sagt er.
Die Liberalen hingegen sehen in der geplanten Justizreform den Auftakt zur Errichtung eines jüdischen Gottesstaates, in dem Kleidervorschriften herrschen und Frauen unterdrückt werden. Das Erbe des Staatengründers David Ben-Gurions soll dabei verraten werden. Der säkulare Sozialist wollte in Israel eine tolerante und liberale Gesellschaft schaffen.
Lange wurde Israel denn auch von säkularen Linken reagiert. Doch unter Netanjahu setzten sich die Rechten immer deutlicher durch. Heute bezeichnen sich über 60 Prozent der Juden in Israel als rechts. Dieser Anteil dürfte noch wachsen, denn die Familien der religiösen Fundamentalisten haben deutlich mehr Kinder als die Liberalen.
Fundamentalisten werden zu einem wirtschaftlichen Problem
Der wachsende Anteil der Fundamentalisten wird jedoch zu einem Problem für Israel. Sie haben zwar viele Kinder, doch diese Kinder werden in den religiösen Schulen in der Tora, nicht aber in den Naturwissenschaften unterrichtet.
Nach der Schule leisten sie keinen Militärdienst und gehen selten einer bezahlten Arbeit nach. Derzeit beträgt der Anteil der Fundamentalisten an der Bevölkerung rund zwölf Prozent. Bis ins Jahr 2065 könnte er auf ein Drittel anwachsen. Wie Israel es wirtschaftlich verkraften kann, wenn ein wachsender Teil der Bevölkerung de facto von Sozialhilfe lebt, wird sich weisen müssen.
Die liberalen Israeli haben Angst, dass Netanjahu ihr Land in eine ähnliche Autokratie führen wird, wie Viktor Orban das mit Ungarn getan hat. Der weltberühmte Historiker Noah Harari befürchtet gar noch Schlimmeres. In einem Gastkommentar in der "Washington Post" stellt er fest, dass Ungarn – anders als Israel – durch seine Mitgliedschaft in der EU gewisse Grenzen gesetzt sind.
Außerdem heißt es, dass Ungarn unter einer älter werdenden Bevölkerung leidet, während in Israel eine rechtsradikale Jugend heranwächst. "Sollte der antidemokratische Putsch gelingen, dann werden Israels Freunde und die jüdischen Gemeinden überall auf der Welt gezwungen sein, schwierige Entscheidungen zu fällen", stellt Harari daher fest.
22. Februar, Nablus: Ein Palästinenser steht vor einem Fahrzeug der israelischen Armee im Westjordanland.Bild: dpa / Ayman Nobani
Das gilt auch für den in Israel lebenden Historiker selbst: "Ich bezweifle, ob ich weiterhin an einem Ort leben und arbeiten könnte, an dem Minderheiten und Meinungsfreiheit nicht mehr geschützt werden", schreibt er.