Wahlkampf für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in München. Auf die deutsch-türkische Community kann er offenbar zählen. Bild: IMAGO/ZUMA Wire / Sachelle Babbar
Analyse
08.05.2023, 18:1908.05.2023, 18:49
Der Wahlkampf in der Türkei ist in vollem Gange. Präsident Recep Tayyip Erdoğan beschimpft seinen Herausforderer vor Hunderttausenden Anhängern in Istanbul als "Säufer und Betrunkenen". Er wirft dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu zudem vor, mit "Terroristen" zusammenzuarbeiten.
Der Oppositionspolitiker und Bürgermeister Istanbuls Ekrem Imamoglu wurde indes im Wahlkampf attackiert. Wütende Demonstrierende schleuderten etwa Steine gegen seinen Wahlkampfbus.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer politischen Kundgebung am Atatürk-Flughafen in Istanbul.Bild: Turkish Presidency/XinHua /
Die Lage vor Ort ist offensichtlich bereits vor den Wahlen am 14. Mai angespannt. In Deutschland verlief der Wahlkampf ruhiger. Die deutschen Türk:innen konnten hier seit dem 27. April ihre Stimmen abgeben.
Viele von ihnen wählen wohl für Erdoğan, meint der Deutsch-Türke Mesut* im Gespräch mit watson. Er selber habe schon im türkischen Generalkonsulat in Berlin seine Stimme abgegeben. Es stehe viel auf dem Spiel, sagt der junge Mann. "Die politische Lage in der Türkei ist aus aktueller Sicht besorgniserregend."
Wahlberechtigte Türk:innen gehen in das türkische Generalkonsulat zur Abstimmung für die Türkei-Wahlen.Bild: dpa / Marcus Brandt
Deutsch-Türke ist besorgt um die politische Lage in der Türkei
Laut Mesut konzentriert sich im Inland der gesamte Staatsapparat inoffiziell auf eine Person: den Präsidenten, der über die gesamte Gewaltenteilung entscheidet. "Die Unabhängigkeit der Richter ist fraglich, während oppositionelle Meinungen und Kritik an der Regierung unterdrückt werden", erklärt er.
Mesut betont zudem die katastrophale wirtschaftliche Lage aufgrund der hohen Inflation. Es sei äußerst schwierig für Menschen, sich bestimmte Nahrungsmittel zu leisten, die Lira verliere ständig an Wert. Der junge Mann besucht das Land zwei- bis dreimal im Jahr. Dabei falle ihm auf, wie sich die Gesellschaft immer mehr polarisiere. Er führt aus:
"Kritische Meinungsäußerungen gegenüber dem Präsidenten und der Regierung können zu Strafmaßnahmen führen. Die meisten Medien sind regierungsnah und kritische Berichterstattung ist selten."
Auch außenpolitisch habe das Image der Türkei unter Erdoğan in den westlichen Ländern stark gelitten, meint Mesut. Vor allem sehe er aber die "falschen Entscheidungen" des Präsidenten in Bezug auf die Erdbebenkatastrophe im Februar sehr kritisch. "Wenn ein Mann allein regiert, können Fehler eben schnell passieren", sagt Mesut.
Dennoch ist er überzeugt, viele Deutsch-Türk:innen werden erneut Erdoğan wählen – wie es bei vorherigen Wahlen bereits der Fall war.
Darum wählen Deutsch-Türken Erdoğan und AKP
Mesut hofft, dass seine Stimme zumindest eine Stimme eines Erdoğan-Anhängers neutralisiere. "Jede einzelne Stimme zählt, um das Erdoğan-Regime zu beenden", meint er. Doch woher stammt die Sympathie für den türkischen Präsidenten in der deutsch-türkischen Community?
Laut Mesut trage Deutschland teilweise selbst Schuld daran, dass Erdoğan hierzulande so viel Unterstützung findet. Der Grund: Diskriminierung. In Deutschland werden Menschen mit Migrationshintergrund an vielen Orten diskriminiert, meint er und führt aus:
"Erfolg bei der Arbeitssuche ist ohne Kontakte kaum möglich, obwohl man mehr als qualifiziert ist. Auch die Suche nach einer Wohnung mit Migrationshintergrund ist fast aussichtslos. Gerade deshalb freut sich die Erdoğan-Community darüber, dass er harte Worte gegen den Westen ausspricht."
In München wirbt ein Auto für den türkischen Präsidenten Erdoğan. Bild: IMAGO/ZUMA Wire / Sachelle Babbar
Ein weiterer Grund, sei, dass in Deutschland viele Türk:innen leben, die mehr an Traditionen festhalten als etwa in westlichen türkischen Städten. So stammen viele türkische Arbeitermigrant:innen, die als Erstes nach Deutschland kamen, aus ländlich-konservativen Regionen, wie etwa Anatolien.
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Dazu komme, dass vor allem wenig gebildete Personen dazu neigen, diesem Mann, der auch die Religion für seine Politik instrumentalisiere, alles zu glauben. In den Moscheen sind oftmals AKP-Wählerschichten überrepräsentiert.
Laut Mesut versteht es Erdoğan, die Menschen rhetorisch gegeneinander aufzuhetzen, gleichzeitig präsentiert er sich in den Medien als starker Mann, der den westlichen Staaten die Stirn bietet.
Auch Linken-Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut geht davon aus, dass viele der Deutsch-Türk:innen Erdoğan erneut wählen werden. Gegenüber der "Frankfurter Rundschau" betont sie, dass "Erfahrungen mit Diskriminierung, Rassismus und fehlende politische Partizipationsmöglichkeiten bei Deutsch-Türken zu einem Gefühl der Ausgrenzung in Deutschland" führt.
Außerdem gehe die wirtschaftliche Unzufriedenheit, die die Menschen in der Türkei direkt erleben, an der deutsch-türkischen Community vorbei.
Türk:innen stehen an, um ihre Stimme beimtürkischen Konsulat in Berlin abzugeben. Bild: AP / Markus Schreiber
Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) leben rund 2,9 Millionen Personen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Davon haben etwa die Hälfte (circa 1,5 Millionen) die türkische Staatsangehörigkeit und können bundesweit ihre Stimme für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei abgeben.
"Schicksalswahl" für Erdoğan und seine AKP-Partei
Prognosen zeigen: Es könnte knapp werden für den amtierenden Präsidenten Erdoğan und seiner islamisch-konservativen Partei AKP. Im Wahltrend laut "PolitPro" erreichen die aktuellen Regierungsparteien etwa 40 Prozent der Stimmen.
Bei der direkten Frage, wer Präsident werden soll, kommt Herausforderer Kılıçdaroğlu derzeit auf 48,9 Prozent, wobei Erdoğan mit 43,2 Prozent hinterherhinkt. Dennoch habe es die Opposition schwer, meint Mesut. Er sagt:
"Die Fairness endet bei der Wahlpropaganda. Die Regierung nutzt den gesamten Staatsapparat und die ihr zur Verfügung stehenden Gelder. Die anderen Kandidaten haben nicht so viel zur Verfügung."
Laut Mesut sollten allen Kandidat:innen die gleichen Mittel zur Verfügung stehen. Dazu kritisiert er, dass Erdoğan erneut antreten darf.
Erdoğan macht wohl seine eigenen Regeln
Bei der Kandidatenaufstellung hätte Erdoğan laut Verfassung normalerweise nicht kandidieren dürfen. "Die Verfassung erlaubt eigentlich nur zwei Amtszeiten, aber Erdoğan kontrolliert den Hohen Wahlrat", meint Mesut.
Die Wahl in der Türkei wird von der YSK geregelt und Mesut habe wenig Vertrauen in sie. "Sie ist nicht neutral, sondern hat immer Erdoğans Interessen in der Vergangenheit umgesetzt", kritisiert er.
Erdoğan tritt zum dritten Mal bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei an. Bild: AP / Emrah Gurel
Sorgen um Wahlmanipulation – auch bei Stimmenabgabe in Deutschland
Den Wahlen am kommenden Sonntag blickt der Deutsch-Türke mit Sorgen entgegen. Wenn das Ergebnis nicht Erdoğans Vorstellungen entspricht, könnte es laut Mesut ungemütlich werden. "Bei den vergangenen Wahlen kam es immer wieder zu Problemen am Wahltag oder Wahlen müssen wiederholt werden, wie etwa die letzte Wahl in Istanbul", sagt Mesut.
Auch der türkischstämmige Journalist Hüseyin Topel warnt vor Wahlmanipulation. Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa mahnt er: "Es ist höchste Vorsicht geboten. Besonders die Wahlurnen im Ausland müssen durch Unterstützer der Opposition parteiübergreifend akribisch bewacht werden."
Ein Wahlbüro für die türkischen Wahlen in Bayern.Bild: IMAGO/ZUMA Wire / Sachelle Babbar
2018 kam Erdoğan in Deutschland auf 64,8 Prozent – und insgesamt nur auf 52,6 Prozent. Topel hält eine Rekordwahlbeteiligung hierzulande für gut möglich. "Die Türken in Deutschland fühlen sich durch diese Art der Teilhabe vollwertig und zugehörig. Sie wollen keine Türken zweiter Klasse sein", sagt er.
Hinweis zur Transparenz
Aufgrund des Schutzes der Anonymität wurde der Name geändert. Er liegt aber vollständig der Redaktion vor.
(Mit Material der dpa)