Was sich gerade in China abspielt, entzieht sich jeder rationalen Beurteilung. Innerhalb weniger Wochen hat die Volksrepublik von einer rigorosen Zero-Covid-Politik zur totalen Durchseuchung umgeschaltet. Das Virus rauscht wie ein Tsunami durch die Bevölkerung. Unzählige Menschen sind krank, Krankenhäuser und Krematorien überlastet.
Bis vor kurzem wurden selbst einzelne Coronainfektionen mit knallharten Lockdowns und Einweisungen in die berüchtigten "Quarantäne-Zentren" bekämpft. In Regionen wie Xinjiang sollen die Menschen mehr als 100 Tage in ihren Wohnungen eingesperrt gewesen sein. Nun erlaubt die Regierung den Leuten, bei einer "milden" Erkrankung zur Arbeit zu gehen.
Man kann es kaum fassen. Ist dies das gleiche Land, dessen Regime die Zero-Covid-Politik fast drei Jahre lang als Vorbild für die Welt angepriesen hatte? Im Gegenzug wurde in den Propaganda-Medien auf den "dekadenten" Westen und besonders die USA eingeprügelt, wo die Pandemie Hunderttausende Menschen das Leben kostete.
Die Begründung für den radikalen Kurswechsel wirkt an den Haaren herbeigezogen. So wird neuerdings vermeldet, dass Omikron "harmloser" sei als frühere Virus-Varianten (als ob man das nicht schon lange wüsste). Außerdem behauptet die Kommunistische Partei, man habe mit Zero Covid Zeit gewonnen, um China auf ein "Leben mit dem Virus" vorzubereiten.
Gerade davon aber kann keine Rede sein. So wurden etwa Unsummen für Dauer-Tests ausgegeben, während man es versäumte, die medizinische Infrastruktur für die Krankheitswelle aufzurüsten. Auch die Impfkampagne wurde vernachlässigt. Vor allem ältere Menschen sind gar nicht oder ungenügend geimpft. Sie sind weitgehend schutzlos.
Experten halten die chinesischen Corona-Impfstoffe für durchaus tauglich. Allerdings seien für einen guten Immunschutz drei Dosen notwendig. Und von den westlichen Vakzinen will Peking weiterhin nichts wissen. Gerade erst soll Staatschef Xi Jinping ein Angebot des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier abgelehnt haben.
Dafür wird ab dem 8. Januar die Quarantäne-Pflicht bei der Ankunft in China entfallen, teilte die Regierung am Montag mit. Erforderlich ist noch ein höchstens 48 Stunden alter negativer PCR-Test – für die Einreise in ein Land, in dem das Virus wütet wie nie zuvor. Auf diese Idee wäre nicht einmal Samuel Beckett gekommen, der Meister des absurden Theaters.
Die Regierung muss das nicht kümmern. Sie hat am Sonntag die Veröffentlichung täglicher Corona-Daten eingestellt. Vermutlich war ihr bewusst, dass die gemeldeten paar tausend Infektionen nichts mit der Realität zu tun hatten. Der britische Gesundheitsdaten-Analyst Airfinity geht von einer Million Neuinfektionen und 5000 Todesfällen in China aus – pro Tag.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO zeigte sich letzte Woche "sehr besorgt" über die Entwicklung in China. Es sei wichtig, die Impfkampagne zu beschleunigen. In der Bevölkerung kommt der Kurswechsel unterschiedlich an. Während sich die einen freuen, fragen sich andere, wozu die endlosen Lockdowns und die Dauertests nötig waren.
Für Staatschef Xi Jinping war Zero Covid lange eine Frage des Prestiges. Er ließ sich als "Sieger" über das Virus feiern und versuchte, den mutmaßlichen Ursprung der Pandemie in Wuhan zu verschleiern. Als Experten nach dem Auftauchen von Omikron zur sukzessiven Abkehr von Zero Covid rieten, soll Xi persönlich sein Veto eingelegt haben.
Nun ist Zero Covid tatsächlich vorbei, aber nicht geordnet, sondern abrupt und planlos. Grund dafür dürften die Proteste gewesen sein, die sich im November in mehreren Städten ereignet hatten. Wenn sich Menschen in einem Land auf die Straße wagen, in dem Opposition rigoros unterdrückt wird, muss der Unmut in der Bevölkerung gewaltig sein.
So weit ist die Abkehr von der bisherigen Doktrin nachvollziehbar. Das macht die Umstände und die Bereitschaft, unzählige Todesfälle in Kauf zu nehmen, nicht weniger irrational. Xi Jinping glaubt vermutlich, sich das leisten zu können, weil er am Parteitag im Oktober seine Macht zementieren und sich de facto als Herrscher auf Lebenszeit inthronisieren konnte.
Dabei war schon seine bisherige Amtszeit von einer zunehmenden Ideologisierung und einer Abkehr vom relativen Pragmatismus geprägt, der Chinas Politik lange bestimmt hatte. Die öffentliche Demütigung seines Vorgängers Hu Jinato zum Abschluss des Parteitags war ein Signal in diese Richtung.
Das aber macht China nicht nur irrational, sondern gefährlich.
Gemeint ist damit weniger das Risiko, dass eine neue Virus-Variante entsteht, die den Immunschutz umgehen könnte. Vielmehr wird China geopolitisch unberechenbar. Das zeigt sich etwa anhand der Unterstützung Russlands im Ukraine-Krieg. Xi Jinping scheint so ziemlich jedes Mittel recht zu sein, um den Westen zu destabilisieren.
Am meisten Grund zur Sorge aber hat man in Taiwan. Die Drohungen und Provokationen an die Adresse der "abtrünnigen" Insel haben in den letzten Monaten an Schärfe zugenommen. Am Sonntag kündigte Peking ein Militärmanöver an. Innerhalb von 24 Stunden wurden 71 chinesische Flugzeuge und sieben Schiffe in der Nähe von Taiwan geortet.
Offiziell handelte es sich um eine Antwort auf den Entscheid im US-Kongress, Taiwan neue Kredite zum Kauf von Waffen bereitzustellen. Immer häufiger gehen Experten jedoch davon aus, dass Xi Jinping eher früher als später eine Invasion Taiwans anordnen könnte. Er hat unverhohlen damit gedroht, die Demokratie-Insel mit Gewalt in die Knie zu zwingen.
Der Verlauf des Ukraine-Kriegs könnte ihn davon abhalten. Und zuletzt gab es auch Signale der Entspannung. So stellte Xi letzte Woche eine Normalisierung im Verhältnis zu Australien in Aussicht. Im April 2020 hatten die Australier eine internationale Untersuchung zum Ausbruch der Corona-Pandemie gefordert, worauf China mit Sanktionen reagierte.
Am Montag ließ sich Xi in den Staatsmedien erstmals zum neuen Umgang mit Corona zitieren. Demnach forderte er die Behörden auf, alles "Machbare" zu unternehmen, um Leben zu retten. Das macht die radikale Kehrtwende nicht weniger irrational. Für den Rest der Welt ist sie mehr denn je ein Grund zur Vorsicht im Umgang mit der Volksrepublik.