Expertin zu AfD-Jugendorganisation: Jugendliche nicht als Gegner sehen
In Gießen laufen an diesem Wochenende die Drähte heiß. Die Polizei spricht von einem Einsatz historischen Ausmaßes, Tausende Aktivist:innen bereiten Blockaden vor, 50.000 Demonstrierende werden erwartet. Anlass ist die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation. Der Name Generation Deutschland (GD) gilt als gesetzt, auch wenn es Gegenvorschläge gibt.
Während rund 1000 AfD-Mitglieder unter 36 die neue Struktur beschließen, geht es im Kern um weit mehr als Satzungen und Logos.
Schließlich gilt die AfD Umfragen zufolge für viele junge Menschen als attraktive Partei. Obwohl sie vom Verfassungsschutz in mehreren Bundesländern als rechtsextremistischer Verdachtsfall beziehungsweise als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Trotz der Tatsache, dass sie sich eben nicht für eine bessere soziale Gerechtigkeit, sondern für Spaltung und Hass einsetzt.
In Gießen und bundesweit stellt sich die Frage, warum sich Jugendliche rechten oder rechtsextremen Gruppen zuwenden.
Die Pädagogin Linn Hardt ist eine der Initiatorinnen der Social-Media-Kampagne und Bewegung "Lehrkräfte gegen Rechts". Sie warnt auf Anfrage von watson davor, diese jungen Menschen vorschnell als überzeugte Ideolog:innen zu sehen. Ihrer pädagogischen Erfahrung nach steckt anfangs selten politische Überzeugung dahinter. Vielmehr sieht sie ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Gründung der AfD-Jugend in Gießen: ähnliche Organisation, neuer Name
Die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation in Gießen erhitzt die Gemüter. Die Vorgängerorganisation, die Junge Alternative, war im Frühjahr auf Druck der Partei und angesichts der drohenden Vereinsverbote aufgelöst worden. Der Verfassungsschutz hatte sie als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft; die Verantwortlichen fielen immer wieder durch Provokationen und Parolen zur "Remigration" auf.
Die AfD versucht nun, die Kontrolle zurückzuholen: Nur wer Mitglied der Partei ist, darf Teil der neuen Struktur werden; Verstöße sollen sanktionierbar sein. Der designierte Vorsitzende Jean-Pascal Hohm spricht von "seriösem Auftreten" und der Frage, ob Entscheidungen "für den Otto-Normalbürger ansprechend" seien. Gleichzeitig versichert er, es werde "keine Abkehr" von den bekannten politischen Forderungen geben.
Rechtsextremismusforscher Reiner Becker bezweifelt in der "FAZ", dass sich die ideologischen Grundlagen verändern. Kontakte in die extremistische Szene seien bisher nicht verheimlicht worden. Daran werde sich vermutlich wenig ändern.
Hinter aller Aufregung um Behörden, Parteitaktik und Sicherheitskonzepte gerät jedoch eine zentrale Gruppe häufig aus dem Blick: die Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst.
Lehrerin gegen Rechts beschreibt Jugendliche als Suchende
Deshalb fordert die Lehrerin und Aktivistin Hardt ein Umdenken. Sie beschreibt im Zusammenhang mit Rechtsextremismus Jugendliche, die sich nach Zugehörigkeit und Anerkennung sehnen. Viele von ihnen würden Orte suchen, an denen sie das Gefühl bekommen: Hier sieht mich jemand, hier gehöre ich hin. Rechte Gruppen böten solche Räume häufig schneller als demokratische Institutionen.
Sie versprechen Gemeinschaft, Handlungsmacht und klare Rollen. Das wirke besonders in einer Welt anziehend, in der Jugendlichen ansonsten oft gesagt werde, sie sollten geduldig warten, bis sie irgendwann "dran" seien.
Hardt spricht aus diesem Grund bewusst nicht von "rechten Jugendlichen". Sie betont, dass dahinter meist kein fertiges Weltbild stecke, sondern tiefe Unsicherheit. "Bevor Jugendliche 'rechts' werden, sind sie Menschen in Suchbewegungen", sagt sie. Hardts Appell: Jugendliche dürften niemals wie politische Gegner:innen behandelt werden.
Der gefährlichste Fehler: Kampf gegen Jugendliche statt für sie
Hardt warnt davor, Protest gegen rechte Ideologien mit persönlicher Konfrontation zu verwechseln. Wer Jugendliche beschäme oder moralisch belehre, könne sie tiefer in extremistische Gruppen treiben. Für viele sei Ablehnung von außen, sogar Bestätigung dessen, was rechte Netzwerke ihnen vorher versprochen haben: "Die hassen uns. Genau wie man es uns gesagt hat."
Die Dynamik dahinter ist bekannt: Wer sich zurückgewiesen fühlt, zieht sich an den Ort zurück, an dem Zugehörigkeit garantiert wird. In der Extremismusforschung nennt man das Reaktanz: den Reflex, entgegen aller Kritik noch entschiedener an einer Position festzuhalten.
Hardt sieht darin die größte Gefahr: Wenn die Gesellschaft Jugendliche als Feindbild behandelt, verliere man sie nicht nur politisch, sondern auch menschlich. "Wir kämpfen dann nicht mehr für Jugendliche, sondern gegen sie", sagt sie. "Und damit stärken wir am Ende genau die Strukturen, die ihnen schaden."
Jugendliche und Rechtsextremismus: Wie Prävention wirklich funktioniert
Hardt setzt auf eine andere Form des Umgangs: Beziehungsarbeit statt Konfrontation. Wirksam seien aus ihrer Sicht weniger moralische Appelle als vielmehr Zuhören, Fragen, Anerkennung und klare demokratische Werte ohne Herabsetzung. Die beste Prävention sei eine stabile Beziehung, nicht eine pädagogische Aktivismus-Rhetorik.
Sie beschreibt drei Aufgaben, die eine Demokratie ernst nehmen müsse:
- Jugendlichen Räume geben, in denen sie Fragen stellen dürfen, ohne stigmatisiert zu werden.
- Schutz vor Instrumentalisierung, ohne ihnen ihre Rechte abzusprechen.
- Echte Mitsprache ermöglichen. Denn, so Hardt: "Ohne Beziehung gibt es keine Veränderung."
Auf LinkedIn schreibt die hessische Kinderbeauftragte Miriam Zeleke, es sei "Zeit und Zeichen, junge Menschen verdammt ernst zu nehmen". Sie erinnert ebenfalls daran, dass Jugendliche nicht automatisch radikal seien, sondern zu oft nicht gehört würden. Die Gründung der AfD-Jugendorganisation trifft also auf ein gesellschaftliches Vakuum: Sie bietet an, was die Politik lange nicht liefern konnte: Bedeutung.
Die Auseinandersetzung um die AfD-Jugend ist mehr als ein Parteitreffen mit Großaufgebot der Polizei. Sie ist nach Ansicht der Expert:innen ein Symptom für eine gefährliche Entwicklung: eine Gesellschaft, die die Bedürfnisse ihrer Jugend ignoriert. Diese dürfe sich nicht wundern, wenn Extremist:innen sie ernst nehmen.
Wie stark eine Demokratie wirklich ist, zeigt sich vor allem daran, ob sie Brücken zu ihrer Jugend baut. Oder sie fallen lässt und damit verliert.
