Alla Pugatschowa ist nicht irgendwer. Die 73-Jährige ist ein Superstar der russischen Popmusik, vom Status her vergleichbar mit einer Dolly Parton oder Juliette Gréco. Ihre Erfolge begannen zur Zeit der Sowjetunion, aus der Politik hielt sie sich stets heraus. Umso mehr Aufsehen erregte der Beitrag, den sie am Sonntag auf Instagram veröffentlichte.
Darin solidarisierte sie sich mit ihrem 27 Jahre jüngeren Ehemann, dem Komiker und Moderator Maxim Galkin. Er hatte den Ukraine-Krieg von Anfang an scharf kritisiert und war deshalb als "Auslandsagent" auf eine Schwarze Liste gesetzt worden. Sie wolle ebenfalls zu den Auslandsagenten gezählt werden, forderte Pugatschowa.
Ihren Mann bezeichnete sie als "echten und unbestechlichen Patrioten Russlands, der seiner Heimat Wohlstand wünscht, ein friedliches Leben, Redefreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zum Paria machen und das Leben unserer Bürger erschweren". Deutlicher kann man Kritik am Krieg kaum formulieren.
Der Musikkritiker Artemy Troitsky, der seit 2014 im estnischen Exil lebt, bezeichnete Alla Pugatschowas Statement gegenüber der BBC als "ziemlich schockierend für die Menschen in Russland". Es werde die öffentliche Meinung nicht allein gegen Wladimir Putin und den Krieg umdrehen, sei aber "vielleicht einer der stärksten Faktoren in diese Richtung".
Noch ist der Widerstand gegen den Kreml-Herrscher überschaubar. Putin hat sein Volk in den 22 Jahren seiner Regentschaft zu Passivität und Untertanengeist "erzogen", und Kritikern des Kriegs drohen drakonische Strafen. Der Verlauf des Ukraine-Feldzugs, der eigentlich nur drei Tage dauern sollte, lässt jedoch seine Autorität zunehmend bröckeln.
Bei Alla Pugatschowa mag die persönliche Betroffenheit im Zentrum stehen, dennoch ist ihre Wortmeldung bemerkenswert. Sie dürfte kaum zufällig zum jetzigen Zeitpunkt erfolgen. Der fluchtartige Rückzug der russischen Armee in der Region Charkiw bringt nicht nur die nationalistischen Hetzer auf die Palme. Er ermutigt auch das "andere" Russland.
Im Exil lebende Journalisten und Politologen stellen bei der russischen Bevölkerung eine zunehmende Unruhe wegen des Verlaufs der "Spezialoperation" fest. Verschiedene Lokalpolitiker aus Moskau und St. Petersburg forderten Wladimir Putin öffentlich zum Rücktritt auf. Vereinzelt wurde sogar eine Anklage wegen Hochverrats verlangt.
Putin wollte sich die Ukraine mit dem Krieg einverleiben oder zumindest als "Vasallenstaat" an sich binden, wie das mit Belarus bereits der Fall ist. Außerdem wollte er Russland als Ordnungsmacht in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens etablieren. In den letzten Tagen aber kam es dort zwischen je zwei Staaten zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
Erst griff Aserbaidschan den Erzfeind Armenien an, nicht in der umstrittenen Region Berg-Karabach, sondern auf dem eigentlichen Staatsgebiet. Dutzende Soldaten kamen ums Leben. Nach zwei Tagen wurde eine prekäre Waffenruhe vereinbart. Kurz danach kam es zu Kämpfen an der fast 1000 Kilometer langen Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt in ehemaligen Sowjetstaaten die Waffen sprechen. Vor zwei Jahren hatte Aserbaidschan bereits versucht, mit türkischer Hilfe das von Armenien besetzte Berg-Karabach zurückzuerobern. Weil Russland als Schutzmacht Armeniens intervenierte und eine "Friedenstruppe" in der Konfliktregion stationierte, gelang dies nur teilweise.
Ilham Alijew, der autokratische Präsident von Aserbaidschan, nahm dies zähneknirschend hin und sann seither auf Revanche. Und auf Distanz zu Moskau. Mitte Juli unterzeichnete er in Baku einen Gasliefervertrag mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Es war eine Art virtueller Mittelfinger an die Adresse von Wladimir Putin.
Mit Russlands Schwäche in der Ukraine sah Aljiew offenbar die Gelegenheit gekommen, seine "Rechnung" mit den Armeniern zu begleichen. Im Konflikt zwischen Kirgistan und Tadschikistan dürfte sie ebenfalls eine Rolle gespielt haben, denn Russland hatte zuvor rund 1500 Soldaten von einer tadschikischen Militärbasis in die Ukraine verlegt.
Auch Kasachstan, das flächenmäßig größte Binnenland der Welt, geht zunehmend auf Distanz zu Moskau. Im Norden lebt eine große russischsprachige Minderheit, was Ängste vor einem Ukraine-Szenario schürt. Präsident Kassym-Schomart Tokajew bemüht sich deshalb um eine Annäherung an China. Gleichzeitig bietet er Europa Öl und Gas an.
Besonders deutlich wurde Putins schwindender Einfluss am Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) im usbekischen Samarkand. Statt Unterstützung für den Ukraine-Krieg zu erhalten, bekam er Vorbehalte zu hören. So musste er öffentlich zugeben, dass Chinas Präsident Xi Jinping "Fragen und Bedenken" zum Kriegsverlauf habe.
Xi hielt auch sonst Distanz zu Putin. Er erwähnte die Ukraine mit keinem Wort und machte keinerlei Anstalten, die Russen bei der "Spezialoperation" zu unterstützen. Geradezu vorgeführt wurde Putin beim Treffen mit dem indischen Regierungschef Narendra Modi. Dieser betonte vor laufender Kamera, dass "die heutige Zeit keine Zeit des Krieges ist".
Putin schwieg betreten und versuchte in seiner Replik, die Schuld am Gemetzel den Ukrainern in die Schuhe zu schieben. Sie hätten sich "leider" entschlossen, ihre Ziele durch militärische Mittel zu erreichen. Wen er mit dieser krassen Verdrehung der Tatsachen beeindrucken will, weiß der russische Staatschef vermutlich selber nicht.
Der rasante Autoritätsverlust des "Macho-Präsidenten" ist bemerkenswert. Er bedeutet nicht, dass seine Macht unmittelbar bedroht ist. Aber wenn selbst Alla Pugatschowa aufmuckt und einstige Sowjetrepubliken seine Schwäche ausnützen, sieht es nicht gut aus.