Die Jugend ist so gestresst wie nie und die finanzielle Lage ist auf einem neuen Tiefststand angekommen: Das war das ernüchternde Ergebnis der Trendstudie "Jugend in Deutschland 2023" von den Jugend- und Generationenforschern Simon Schnetzer, Klaus Hurrelmann und Kilian Hampel.
Vor allem machen sich die 14- bis 29-Jährigen aktuell Sorgen um ihre Zukunft. 20 Prozent gaben an, von Armut bedroht zu sein, 16 Prozent haben Schulden.
Was dagegen helfen soll: die Kindergrundsicherung. Zumindest, wenn es nach Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) geht. Der Grünen-Vorstoß wurde 2021 sogar im Koalitionsvertrag verankert. "Jede und jeder soll das eigene Leben frei und selbstbestimmt gestalten können", steht darin. "Aber die Chancen sind nicht für alle gleich verteilt. Deshalb müssen die Grundlagen für soziale Aufstiegschancen schon in Kita und Schule gelegt werden."
Doch passiert ist seit 2021 in Sachen Kindergrundsicherung nicht viel. Kommen soll sie frühestens 2025 – am Ende der Wahlperiode. Im mittlerweile jahrelangen Streit um die Finanzierung eines solchen Vorstoßes kam es nun zumindest zu einer Einigung der Eckpunkte mit dem Kanzleramt.
Vergangene Woche sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): "Wir sind jetzt intensiv dabei, das in der Regierung zu erarbeiten, und haben auch große Fortschritte in unseren bisherigen Beratungen gemacht. Das wird also bald etwas werden."
"Bald was werden" klang bisher eher nach "Mal schauen was wird". Doch der Jugend geht es jetzt akut schlecht. Was will Bundesfamilienministerin Lisa Paus dagegen tun?
Auch wenn die Kritik an der auf sich warten lassenden Kindergrundsicherung immer größer wird: Völlige Untätigkeit kann man Lisa Paus in ihrer bisher rund einjährigen Amtszeit als Bundesfamilienministerin nicht vorwerfen. Sie hat das Amt ihrer zurückgetretenen Parteikollegin Anne Spiegel im vergangenen Jahr übernommen.
Im Dezember hat Paus das "Bündnis für die junge Generation" ins Leben gerufen. Dies geschah als Reaktion auf die massiven Belastungen, denen vor allem Kinder und Jugendliche aufgrund der Corona-Pandemie immer noch ausgesetzt sind. Das Zeichen, das mithilfe von mehr als 175 Persönlichkeiten gesendet werden soll: "Wir haben euch nicht vergessen, ihr seid uns nicht egal", sagte Lisa Paus im Interview mit watson.
Lisa Paus will mit ihren Projekten vor allem das Mitspracherecht für Kinder und Jugendliche fördern. Dadurch solle auch die Zuversicht in die Zukunft wachsen, meint die Ministerin.
Auch die Jugendpolitiktage schlagen in eine ähnliche Kerbe: Das Forum lässt Jugendliche zu Wort kommen. Paus hat es in diesem Jahr eröffnet. Das, was dort erarbeitet wurde, fließe in den Ampel-Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung und die Jugendstrategie der Regierung ein, versprach Paus.
Darüber wollte die Ministerin im Interview allerdings nicht primär sprechen. Stattdessen kam sie auf die Kindergrundsicherung zurück: "Konkret möchte ich mit der Kindergrundsicherung mehr finanzielle Sicherheit schaffen." Paus wurde nicht müde zu betonen: Diese sei "der zentrale Hebel gegen Armut für Kinder und Jugendliche".
Die gängige Kritik daran: Wie soll das Ganze finanziert werden und wie wird den Kindern und Jugendlichen im Jahr 2023 und 2024 geholfen? Die Krisen wegen des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, einer drohenden Wirtschaftskrise und den Post-Corona-Auswirkungen belasten die Jugend schließlich vor allem jetzt.
Paus' Antwort auf letzteres: mit der Kindergrundsicherung. Eben erst im Jahr 2025. Das bedeutet also, bis dahin werden Kinder und Jugendliche wohl mit den alternativen Plänen der Ministerin ausharren: Mental Health Coaches (ab dem kommenden Schuljahr), mehr Schulsozialarbeit und einem besseren Angebot an Ganztagsschulen.
Dass es der Jugend jetzt schlecht geht, sieht Lisa Paus im Übrigen nur bedingt so: "Das kann ich in dieser Absolutheit nicht bestätigen, sicherlich geht es nicht allen Kindern und Jugendlichen schlecht", sagte sie. Im Kontext der alarmierenden Zahlen der Jugendstudie ist diese Aussage überraschend. Die Bedenken und Sorgen nehme sie aber sehr ernst.
Die eindeutige Kritik der Studienautoren der Trendstudie "Jugend in Deutschland 2023": "Es fehlt an konkreten Hilfsangeboten", wie Simon Schnetzer in einem früheren Gespräch mit watson betonte. Ob Mental Health Coaches den entscheidenden Vorteil für die Jugendlichen ab dem kommenden Schuljahr bringen, bleibt fraglich.
Ebenso wie die Finanzierungsfrage. Mit der Kindergrundsicherung soll das Kindergeld der Vergangenheit angehören. Stattdessen soll es einen einkommensunabhängigen Garantiebetrag in gleicher Höhe geben – für einkommensschwache Familien einen Zusatzbeitrag. Der ist allerdings noch in Verhandlung und nicht sicher.
In der Kindergrundsicherung sollen fünf Leistungen zusammengeführt werden: das Kindergeld, der Kinderzuschlag, das Bürgergeld für Kinder, sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepakets.
Die Kosten der Reform sind laut Paus mit dem Kanzleramt ebenso wie die Eckpunkte abgesprochen. Eine konkrete Summe wollte sie aber weiterhin nicht nennen. Sie hatte bisher rund zwölf Milliarden Euro veranschlagt, vor allem Finanzminister Christian Lindner (FDP) sieht dafür aber im Haushalt kaum Spielraum. Er will höchstens drei Milliarden bereitstellen.
Ein weiterer Kritikpunkt: Die Kindergrundsicherung soll allen Kindern und Jugendlichen die gleichen Chancen ermöglichen. So steht es im Koalitionsvertrag. Doch bringt sie das wirklich? Schließlich erhalten alle Kinder denselben Betrag, voraussichtlich in Höhe von 250 Euro pro Monat. Der Zusatzbetrag ist noch nicht in trockenen Tüchern.
"Diese pessimistische Einschätzung teile ich nicht", sagte Paus. Denn der Zusatzbetrag sei dann für ebenjene, die weniger hätten. Und schon jetzt gebe es das Bürgergeld, den Kinderzuschlag oder das Wohngeld.
Doch gerade diese Zuschläge würden von vielen Familien nicht abgerufen, hört man vor allem immer wieder aus der FDP, wie etwa vom stellvertretenden Bundesvorsitzenden Johannes Vogel. "Unterstützung bei der Bildung kommt nicht an, der Kinderzuschlag für Familien mit kleineren Einkommen wird von rund 70 Prozent der Berechtigten nicht abgerufen", sagte Vogel im April.
Doch Zusatzbetrag hin oder her: Dass Familien mit starkem Einkommen zusätzliche Unterstützung in Form des Grundbeitrages erhalten – und nicht etwa ausschließlich einkommensschwache Familien unterstützt werden – berechtigt die Frage nach Chancengleichheit. Ähnlich, wie es beim Kindergeld aktuell der Fall ist.
Bei der Kindergrundsicherung "gehen wir von dem Grundsatz aus, dass Eltern alles tun, damit es ihren Kindern gut geht", erklärte Paus. "Die Behauptung, dass sie für Kinder bestimmtes Geld für sich selbst ausgeben, ist so nicht haltbar."
Die Realität sieht aber teilweise anders aus: Grundsätzlich haben Kinder unter 18 Jahren per se Anspruch auf Kindergeld. Es muss aktiv beantragt werden. Ihre Eltern sind allerdings nicht verpflichtet, es an sie weiterzugeben. Wird das Geld also gar nicht erst beantragt oder für das Kind aufgewendet, hat sich die Chancengleichheit für das Kind selbst weiterhin nicht verbessert.
Im Falle des Kinderzuschlags erreicht dieser nach Angaben der Bundesregierung nur rund jedes dritte berechtigte Kind.
"Studien belegen, dass Eltern eher bei sich selbst sparen, um ihren Kindern etwas zu ermöglichen. Gerade in ärmeren Haushalten kommt zusätzliches Geld also direkt bei den Kindern an und fließt in Bildung und Freizeitaktivitäten. Das hat erst kürzlich eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung gezeigt", sagte Lisa Paus.
Brisant ist nun: Paus hat in der Zwischenzeit offenbar ein Eckpunktepapier erarbeitet, in dem sie und ihr Ministerium die Kindergrundsicherung aufdröseln. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" will mit Personen gesprochen haben, die Einsicht in dieses Papier hatten. Demnach sollen die Pläne zur Kindergrundsicherung, die Paus zu Beginn ihrer Amtszeit als "eines der zentralen familien- und sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode" bezeichnete, nun an vielen Stellen abgeändert worden sein.
Im Großen und Ganzen geht es dabei um Finanzierungsfragen: Woher kommt das Geld, etwa für den Garantiebetrag? Wird es im Steuerrecht verankert sein oder doch im Sozialrecht? Steuererhöhungen sind mit FDP-Finanzminister Christian Lindner wohl nicht machbar – dennoch will Paus den Garantiebetrag laut der "FAZ" am Steuerrecht anhängen.
Ein großes Fragezeichen steht laut der "FAZ" zudem hinter der geplanten Neuermittlung des Kinderexistenzminimums. Die Zielvorgabe sollte laut dem ersten Entwurf sein, dass Garantiebetrag und Zusatzbetrag "an der Mitte der Gesellschaft" ausgerichtet werden sollen. Wie die "FAZ" ihre Informant:innen zitiert, sei eben diese Vorgabe im neuen Entwurf nicht mehr enthalten.
Die "FAZ" schreibt zudem: "Nunmehr werde lediglich versichert, dass Leistungsverschlechterungen für die Familien in der Kindergrundsicherung ausgeschlossen werden." Auch ein von der FDP gewünschtes digitales Kinderchancenportal tauche in dem neuen Papier nicht mehr auf.
Die Jugend ist also weiterhin gestresst und befindet sich in einem finanziellen Krisenmodus. Bis 2025 soll es bessere Angebote für die mentale Gesundheit und mehr Mitspracherecht für die Jugend geben. Und dann soll die Kindergrundsicherung den Rest regeln – so zumindest die Hoffnung.