41 Prozent der Deutschen fühlen sich einsam. So zumindest sahen die Zahlen von Befragungen während der Coronapandemie aus. Doch auch jetzt, wo Lockdowns und Schulschließungen der Vergangenheit angehören, ist Einsamkeit noch immer fest in der Gesellschaft verankert.
Die aktuelle Mittestudie (2023) kommt zu dem Schluss, dass 13 Prozent der Menschen in Deutschland sich häufig einsam fühlen – 19 Prozent der Befragten gaben an, sich hin und wieder einsam zu fühlen. Das sind in etwa so viele Menschen wie vor der Coronapandemie. Doch das trifft bei Weitem nicht nur ältere Menschen, wie man im ersten Augenblick vielleicht vermuten würde.
"Einsamkeit zeigt im Lebenslauf keinen linearen Verlauf. Alte Menschen sind also nicht grundsätzlich einsamer als Jugendliche", sagt Claudia Neu im Gespräch mit watson dazu. Neu ist Soziologieprofessorin an der Uni Göttingen und hat unter anderem an der Mittestudie mitgewirkt. Sie stellt klar: Das Gefühl der Einsamkeit ist kein individuelles Problem, sondern systemisch. Und: Es könnte gefährlich sein, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – womöglich sogar für unsere Demokratie.
Es ist also nicht so, dass sich Menschen irgendwann im späten Leben einsam fühlen, sondern auch schon früher. Die erste Welle käme oftmals während der Jugend, meint Neu, dann noch einmal im frühen Erwachsenenalter und erneut im hohen Alter. Außerdem auffällig: Menschen, die wenig Geld haben, chronisch krank sind oder eine Behinderung haben, Erwerbslose und Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen sich besonders häufig einsam.
Das Kompetenznetzwerk Einsamkeit erklärt auf watson-Anfrage:
Das Netzwerk beschäftigt sich mit den Risiken und Auswirkungen von Einsamkeit sowie dem Umgang damit. Einsamkeit, erläutert das Netzwerk weiter, habe vielfältige Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit.
Psychische Gesundheit und Einsamkeit könnten einander auch gegenseitig bedingen. So könne Einsamkeit etwa zu einer depressiven Störung und suizidalen Gedanken führen – eine depressive Störung könne aber auch Einsamkeit bedingen.
"Menschen in chronischer Einsamkeit geraten häufig in eine negative Abwärtsspirale aus negativen Gedanken- und Verhaltensmustern, die ihre Einsamkeit verstärken können", heißt es auf watson-Anfrage.
Im schlechtesten Fall kann diese Einsamkeit dazu führen, dass sich die Menschen Gruppierungen anschließen, die nicht auf dem Boden der demokratischen Grundordnung stehen. Noch stehe die Forschung hier am Anfang, meint Soziologin Neu. Die Erkenntnisse, die es mittlerweile gibt, belegten dennoch, dass es eine Verbindung zwischen Einsamkeit und antidemokratischen Haltungen innerhalb der Gesellschaft gibt. Das lasse sich empirisch beweisen.
Neu sagt dazu:
Als möglichen Grund dafür sieht Neu auch, dass gerade rechtsgerichtete Gruppierungen einsame Menschen für sich gewinnen können, weil sie eine Gemeinschaft bieten – und weil sie, wie zum Beispiel in Sachsen, Jugendeinrichtungen kapern. "Genau das ist es, wonach sich einsame Menschen sehnen: Kontakte, Miteinander, Gruppenzugehörigkeit", fasst Neu zusammen. Und sie stellt klar: Jugendliche können sehr einsam sein – gerade dann, wenn sie nicht reinpassen in den Ort, an dem sie sind.
Das kann an der eigenen politischen Überzeugung liegen – egal ob diese links oder rechts ist – oder auch am Aussehen, den finanziellen Möglichkeiten oder der Migrationsgeschichte der Familie.
Weniger problematisch ist aus Sicht von Neu Social Media. Natürlich gebe es dort die Echokammereffekte, durch die der schnell lernende Algorithmus schnell weitere Inhalte aus derselben Richtung auf die Foryou-Page spült. Aber: "Die Jugendlichen, mit denen wir für die Kollektiv-Studie gesprochen haben, waren sich sehr bewusst, dass das auf Social Media keine echten Freunde sind und dort viele falsche Freunde lauern können." Die Soziologin rät daher dazu, den Einfluss von Social Media nicht überzuinterpretieren.
Auch wenn die Erforschung von Einsamkeit als gesellschaftliches Problem noch relativ jung ist, gibt es Lösungsansätze. Neu meint, es ergebe wenig Sinn, Programme direkt auf Einsamkeit zu münzen. Denn dann würden sich Menschen, die sich ohnehin schon einsam und schlecht fühlen, noch schlechter fühlen. Die Überwindung wäre hoch, das Angebot tatsächlich anzunehmen, meint sie. Sinnvoller aus Sicht der Soziologin: Neue Räume zu schaffen.
Sie meint, es müsse stadtplanerisch möglich gemacht werden, dass der Kiez oder das Dorf wieder ein Ort der Begegnung wird. Denn: Der Mensch ist trotz aller Individualität ein soziales Wesen. Wenn sich einsame Menschen nicht extremen Gruppierungen anschließen sollen, müsse daher gesamtgesellschaftlich etwas gegen die Einsamkeit unternommen werden.
"Wir müssen Angebote schaffen, die nicht an dem Schmerz und der Scham der Einsamkeit anknüpfen, sondern an den Interessen und Möglichkeiten des Menschen", sagt Neu. Und das am besten so niedrigschwellig wie möglich. Gerade Menschen, die sich lange einsam gefühlt hätten, meint Neu, fiele es am Anfang häufig schwer, in Gruppen zu agieren. An dem Ort der Begegnung, sei es nun der Dorfplatz, das Kiezcafé oder der Skatepark, müsse es ihnen daher möglich sein, erst einmal einfach nur zu existieren – und zwar ohne sich beteiligen zu müssen.
Was auffalle: Solche Angebote werden immer mehr. Auch das zeige aus Sicht der Soziologin, dass Einsamkeit spätestens seit der Pandemie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung einen Platz gefunden hat. Um zu verhindern, dass antidemokratische Gruppierungen Menschen vereinnahmen, müsste es ein demokratisches Gegenangebot geben. Und genau das passiere. Denn wie Neu erklärt, hätten Menschen bemerkt, dass sie sowohl auf dem Land als auch in der Stadt aktiv etwas gegen die Einsamkeit tun müssen.
Das Kompetenznetzwerk Einsamkeit wirkt darüber hinaus an der Einsamkeitsstrategie mit, die die Bundesregierung aktuell erarbeitet. Aber jede:r könne mithelfen, etwas gegen das Problem Einsamkeit zu tun, stellt das Netzwerk klar. "Denn die alltäglichen zwischenmenschlichen Kontakte und Beziehungen jedes Menschen sind nicht zu unterschätzen."
Ein erster wichtiger Schritt könne es sein, die Augen und Ohren im eigenen sozialen Umfeld offenzuhalten und auf andere Menschen zuzugehen.