Der Präsident als Streikposten: Joe Biden in Detroit.Bild: IMAGO images/ZUMA Wire / ryan garza
Analyse
Der Streik der Autoarbeiter in Detroit wird zu einem politischen Schlachtfeld.
Philipp Löpfe / watson.ch
Technischer Fortschritt möge für Einzelne schmerzhaft sein, die Gesellschaft oder gar die Menschheit profitierten jedoch davon. So wurde die Einführung der Maschinen zu Beginn des Industriellen Zeitalters begründet, so wird heute die Künstliche Intelligenz legitimiert. Aber stimmt dies auch?
Nur beschränkt, glauben die beiden Ökonomen Daron Acemoglu und Simon Johnson. In ihrem jüngsten Buch "Macht und Fortschritt" zeigen sie auf, dass die Früchte des Fortschrittes historisch betrachtet sehr unterschiedlich verteilt werden und es meist weit mehr Verlierer als Gewinner gab.
Um ihre These zu untermauern, gehen Acemoglu/Johnson weit ins Mittelalter zurück. Uns reicht ein Blick auf die amerikanische Autoindustrie. Sie ist geradezu ein Paradebeispiel, wie technischer Fortschritt seine Kinder frisst.
Die goldene Zeit der Autoarbeiter
Henry Ford bezahlte seine Arbeiter bekanntlich sehr anständig. Er tat dies nicht aus Barmherzigkeit, sondern aus der Einsicht heraus, dass – wollte er Kunden für sein Modell T gewinnen – es auch Konsumenten braucht, die über das nötige Einkommen verfügen. In der Folge führte Fords Einsicht dazu, dass die Autoarbeiter in Detroit auch bei GM und Chrysler weit überdurchschnittliche Löhne erhielten und sich ein mittelständisches Leben leisten konnten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg brachen für die amerikanischen Autoarbeiter geradezu goldene Zeiten an. Auch wer keinen Schulabschluss vorweisen konnte, war in der Lage, so gut zu verdienen, dass er sich ein Häuschen und ein Auto leisten konnte, ohne dass seine Frau mitverdienen musste. Ja, er konnte noch genügend Geld auf die Seite legen, um seinen Kindern ein Studium zu finanzieren.
Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus war damit Schluss. Ronald Reagan brach die Macht der Gewerkschaften und danach sorgte Bill Clinton mit dem Freihandelsvertrag NAFTA dafür, dass weite Teile der Auto-Zulieferindustrie nach China und Mexiko verlegt wurden. Die Folgen für die amerikanischen Arbeiter waren brutal. Wer seinen Job behalten konnte, musste Lohneinbussen um mehr als die Hälfte hinnehmen.
Selbst das reichte nicht, um GM, Ford & Co. über Wasser zu halten. Sie überlebten nach der Finanzkrise 2008 nur dank einer Finanzspritze des damaligen Präsidenten Barack Obama. Doch auch diesmal kamen die Arbeiter schlecht weg. Sie mussten nochmals Lohnkürzungen verkraften.
Brach die Macht der Gewerkschaften: Ronald Reagan.Bild: AP / Barry Thumma
Inzwischen jedoch hat sich die amerikanische Autoindustrie nicht nur erholt, sie hat in den letzten Jahren Rekordgewinne eingefahren. Gleichzeitig kann sie milliardenschwere Subventionen der Regierung einstreichen, die damit den Übergang zur Elektromobilität fördern will.
Angesichts dieser Entwicklung wollen die Arbeiter nun ebenfalls ein Stück des Kuchens erhalten, zumal ihr Einkommen durch die Inflation der letzten Jahre zusätzlich geschmälert worden ist. Weil sich Gewerkschaften und Arbeitgeber jedoch bisher nicht auf einen Kompromiss einigen konnten, haben die Gewerkschaftsführer erstmals seit langer Zeit wieder zu einem Streik aufgerufen.
Einer, der ihnen dabei unter die Arme greift, ist Joe Biden. Am Dienstag ist der Präsident höchstpersönlich nach Detroit gepilgert und hat sich zu den Streikposten gesellt. Biden griff gar selbst zum Megafon und rief den Streikenden zu:
"Tatsache ist, dass ihr die Autoindustrie gerettet habt, 2008 und schon zuvor. Ihr habt große Opfer gebracht, als die Unternehmen in Schwierigkeiten steckten. Derzeit geht es ihnen unglaublich gut, und wisst ihr was? Euch sollte es auch unglaublich gut gehen."
Ein Präsident als Streikposten ist außergewöhnlich, ja historisch einmalig. Warum tut Biden dies? Einerseits, weil er traditionell Sympathien für die Gewerkschaften hat. Immer wieder erwähnt er, dass er in Scranton, einer Industriestadt in Pennsylvania, aufgewachsen sei und die Nöte der einfachen Arbeiter kenne und nachvollziehen könne.
Solidarisch mit den Streikenden: Joe Biden.Bild: IMAGO images/ZUMA Wire / Ryan Garza
Doch es steckt auch politisches Kalkül hinter Bidens Besuch. Detroit liegt in Michigan, einem sogenannten Swing State, den Biden bei den letzten Wahlen nur mit Mühe gewann. 2016 konnte Trump die Wut der Autoarbeiter auf Hillary Clinton und NAFTA zu seinen Gunsten ausnutzen. Biden hat daher ein großes Interesse daran, die Unterstützung der Gewerkschaften zu erhalten. Sie könnten 2024 das Zünglein an der Waage spielen. Bisher hat sich die UAW, die Gewerkschaft der Autoarbeiter, jedoch noch nicht hinter den Präsidenten gestellt.
Dazu kommt, dass die Gewerkschaftsbewegung in den USA wieder im Aufwind ist. Ökonomen wie Acemoglu und Johnson fordern stärkere Gewerkschaften, um eine gerechtere Verteilung des technischen Fortschritts zu erzwingen. Nicht nur in der Industrie, auch im Bereich der Dienstleistungen machen die Gewerkschaften Fortschritte. Ob Amazon oder Starbucks, auch Dienstleister müssen hinnehmen, dass immer mehr ihrer Mitarbeiter beginnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Schürt die Angst vor Elektromobilität: Donald Trump.Bild: AP / Chris Carlson
Das Image der Gewerkschaften hat sich in der amerikanischen Öffentlichkeit gewandelt, der Geruch der Nähe zur Mafia hat sich verzogen. Als Ronald Reagan in den Achtzigerjahren die Fluglotsen wegen ihres Streiks in corpore feuerte, konnte er mit sehr viel Verständnis in der Bevölkerung rechnen. Die Forderungen der Lotsen-Gewerkschaft waren damals tatsächlich unverschämt. Heute hingegen hat sich das Blatt gewendet. Die UAW kann sich nicht nur auf die Unterstützung von Biden, sondern von der Mehrheit der Bevölkerung stützen.
Daher will auch der Ex-Präsident nach Detroit pilgern und zu den Streikenden sprechen. Trump hat jedoch keine besonders gewerkschaftsfreundliche Bilanz vorzuweisen. Seinen Tower in New York etwa ließ er mehrheitlich von lausig bezahlten polnischen Bauarbeitern errichten. Auf seinen Golfresorts soll er immer mal wieder illegale Immigranten beschäftigen.
Trump setzt daher auf die Angst vor der Elektromobilität. Die Herstellung von E-Autos benötigt tatsächlich weniger Arbeiter, und China ist ein führender Hersteller geworden. Deshalb schreibt der Ex-Präsident auf seiner Plattform Truth Social in Großbuchstaben: "Er (Biden) will euch eure Jobs wegnehmen und sie den Chinesen und anderen Ländern geben. Ich will diese Jobs sichern und euch reich machen."
Wie weit Trumps Panikmache verfangen wird, muss sich weisen. An der Tatsache, dass der Übergang zu Elektroautos bereits im vollen Gang und nicht mehr umkehrbar ist, ändert dies nichts. Es geht heute einzig noch darum, wer diesen Übergang schafft und wer nicht.
Seit der US-Wahl steht fest: Donald Trump wird erneut ins Amt des US-Präsidenten zurückkehren. Spannend war das Rennen ums Weiße Haus allemal. Doch es war ein Wahlkampf, der von starker Polarisierung und emotionaler Abneigung zwischen den beiden politischen Lagern geprägt war. Er hat die gesellschaftlichen Gräben in den Vereinigten Staaten weiter vertieft.