Brexit, Inflation, Regierungskrise. Und nun das nächste Polit-Beben. Großbritannien kommt nicht zur Ruhe. Die politische Führung erst recht nicht. Nach Liz Truss' Rückzug nach sechs beispiellos chaotischen Wochen wünscht sich die britische Bevölkerung mehr Kontinuität an der Spitze. Genauso wie wirtschaftliche Stabilität.
Dass die Sorgen der Brit:innen groß sind, zeigt sich auch an den Finanzmärkten. Die Unternehmensstimmung im Land hat sich im Oktober stärker verschlechtert als erwartet. Der Einkaufsmanagerindex fiel auf 47,2 Punkte, wie die Marktforscher am Montag mitteilten. Dies ist der tiefste Stand seit Januar 2021.
Mit Rishi Sunak steht nun die Truss-Nachfolge fest. Sunak ist nun der dritte Premier innerhalb von vier Monaten. Angesichts der fehlenden Abstimmung bezweifelt die Opposition sein demokratisches Mandat und fordert Neuwahlen.
Watson hat mit dem Politologen und Historiker von der Universität Buckingham, Anthony Glees, gesprochen. Er nennt die politische Situation ein "Psychodrama" – und erklärt, warum noch lange keine Ruhe eintreten wird.
Das "Psychodrama", wie der Politologe Anthony Glees es nennt, sei vollständig von der Tory-Partei geschaffen worden. Der Auslöser: Camerons Versprechen von 2013, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft abzuhalten.
2016 haben die Brit:innen schließlich für den Brexit gestimmt. Allerdings nur mit einer knappen Mehrheit (52 zu 48 Prozent). Die Folgen des Austritts sind nach wie vor immens – und die Spaltung der Gesellschaft zieht sich bis heute hin.
Großbritannien stimmte damals für den Austritt aus dem größten Binnenmarkt der Welt. Dabei war das Land an dessen Schaffung maßgeblich beteiligt. Diejenigen, die den Brexit befürworteten, taten dies aus widersprüchlichen Gründen, erklärt Glees. Für den EU-Austritt wurde mit der Ankündigung geworben, dass Großbritannien so viel einfacher einen Handelsvertrag direkt mit den USA schließen könne.
Es wurde versprochen, Produkte am freien Markt viel günstiger einzukaufen und die eigene Industrie mit Zöllen schützen zu können. Großbritannien sollte zu neuer globaler Stärke finden. "Das konnte aber niemals funktionieren", ist Glees überzeugt. Und, das sei der Ursprung der jetzigen Regierungskrise.
2019 gewann Boris Johnson eine Mehrheit von über 70 Sitzen im Parlament. Mit dem Versprechen, den Brexit durchzuziehen. Welche Art von Brexit er befürwortete, davon war damals allerdings nicht die Rede.
Das Drama nahm seinen Lauf.
Aus politischen Gründen akzeptierte Johnson ein Abkommen, das von Lord David Frost ausgearbeitet worden war. Ein harter Brexit. Ergänzt wurde es durch Handelsabkommen, die von Liz Truss organisiert wurden. Dabei handelte es sich größtenteils um die Fortschreibung bestehender Abkommen mit der EU.
Diejenigen Tories, die in der Partei am rechten Rand stehen, wollten eine Regierung mit niedrigen Steuern, wenig Regulierung und geringen Sozialausgaben nach amerikanischem Vorbild. "Aber selbst die Menschen, die 2019 für die Konservativen gestimmt haben, wollten das nicht", erklärt Glees.
Die Folge: ein ständiges Hin und Her.
Nach dem Fall Johnsons im Sommer 2022 versuchte die neue Premierministerin Liz Truss eine radikale Steuerreform durchzupeitschen.
Die Pläne, die nur mit neuen Schulden gegenfinanziert werden sollten, scheiterten am Widerstand in den eigenen Reihen. Das Wirtschaftschaos war perfekt. Glees sagt:
Es überrasche nicht, dass die Situation mit Truss' Rücktritt endete. Geht es nach Umfragen, war dies die richtige Entscheidung: Nur 7 Prozent der Wähler billigten Truss, 77 Prozent waren für einen Rücktritt. "Das ist eine Momentaufnahme, aber bezeichnend", resümiert Glees.
Nun herrsche "Empörung und Unglauben" im Land. Glees bezeichnet das Treiben der Tories als "Zirkus". Sie setzten alles daran, dass es keine Neuwahlen gibt und akzeptieren stattdessen eine enorme wirtschaftliche und politische Instabilität in Land. "Eine Krise, die schlimmer ist als 2008, schlimmer als 1956. Eine Krise, die dieses Land noch nie zuvor gesehen hat", sagt Glees.
Nun drohe ein Zusammenbruch des wirtschaftlichen und politischen Systems.
Seit Montagnachmittag ist klar: Rishi Sunak wird der neue britische Premier. Diese Auswahl beinhaltet Konfliktpotenzial, davon ist der Politologe überzeugt. Glees führt aus:
In den kommenden Monaten wird nach Meinung des Experten also mindestens eine Hälfte der Tory-Partei Sunak ablehnen. Eine sparsame Politik sei das kleinere Übel. Glees ist überzeugt: "Solange es einen harten Brexit gibt, wird die Wirtschaft weiter einbrechen."
Die Wirtschaftskrise im Land nimmt an Fahrt auf. "Für mich ist die einzige Antwort eine Parlamentswahl", sagt Glees.
In Großbritannien wird es also weiterhin beben. Klar ist nur: Boris Johnson wartet. Der Ex-Premier ist ausgestiegen, aber auf typisch Johnson'sche Weise – nicht für immer. Glees fragt:
Johnson jedenfalls gibt die Hoffnung nicht auf, wieder an die politische Spitze Großbritanniens zu kommen. Er sei gut aufgestellt, um 2024 eine konservative Mehrheit zu erreichen. Dies hat er vergangene Woche selbst mitgeteilt.
Wie aber kann das Land seine politische Stabilität zurückgewinnen? Wenn es nach Glees geht, ist damit in den kommenden Jahren nicht zu rechnen. König Charles müsse eingreifen und klarstellen, dass das Vereinigte Königreich genug von der "Psychose" der Tory-Partei habe. "Aber das wird nicht passieren. Wir sind durch den Brexit dazu verdammt, die gleichen Fehler immer wieder zu machen", ist er überzeugt.