Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Gewalthandlungen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
"Großvater ist gestorben und ich habe eine Wunde am Rücken. Meiner Schwester wurde die Haut auf dem Kopf aufgeschlitzt. Meiner Mutter wurde ein Stück Fleisch am Arm abgerissen und sie hat ein Loch in ihrem Bein."
Es sind Notizen in einem Tagebuch. Der Autor dieser Worte ist ein kleiner Junge aus der ukrainischen Stadt Mariupol. Was sich wie eine Horrorgeschichte liest, wurde für den achtjährigen Yehor zur Realität.
Seine Geschichte veröffentlicht die Plattform "Museum of Civilian Voices", gegründet von der ukrainischen gemeinnützigen Rinat Akhmetov Foundation. Sie dokumentiert etliche Geschichten von Zivilist:innen, die unter Russlands Krieg gegen die Ukraine leiden – darunter auch Kinder wie der kleine Yehor.
In seinem "Mariupol-Tagebuch" beschreibt er die Schrecken des Krieges und malt einige Bilder von Explosionen, Panzern, Toten und zerstörten Häusern. Eine traumatisierende Erfahrung, die laut der Kinderpsychologin Eva Möhler schwerwiegende Folgen für die Kinder nach sich zieht.
"Gewalt- und Kriegserfahrungen jeglicher Art versetzen den Körper in einen biologischen Alarmzustand mit erhöhter Stresshormonausschüttung", erklärt Möhler im Gespräch mit watson. Dies sei zwar von außen nicht direkt sichtbar, habe aber langfristig erhebliche gesundheitliche Folgewirkungen, meint die Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum des Saarlandes.
Sie sagt weiter:
Aber auch die Gehirnentwicklung werde bei "traumatischem Stresserleben" – wie Krieg – beeinflusst. Laut Möhler wurden bei Kindern "stressinduzierte Störungen" der Gehirnreifung nachgewiesen. Stress, den auch Yehor zu spüren bekam, als die russische Armee sein Zuhause angriff.
"Wir fingen wieder an zu beten, das hundertste Mal, oder das dreihundertste Mal, ich weiß nicht", erzählt Yehors Mutter. "Du denkst über das nach, was du hörst, und betest gleichzeitig. Plötzlich fühlte es sich an, als lege das Dach auf meinem Rücken." Ein russisches Geschoss trifft das Haus – es zerstört alles, was die Familie besitzt.
Das Dach wurde dabei weggefegt, die ganze Decke stürzte ein. "Yehor schrie, dass er eine Art Stein in seinem Rücken hatte", sagt die Mutter. Der Großvater brach sich das Bein und verblutete innerhalb der nächsten zwei Wochen. Der kleine Yehor hält es in seinem Tagebuch fest: "Großvater ist gestorben und ich habe eine Wunde am Rücken."
Todesangst, Trauer um Familienangehörige und die Zerstörung des Zuhauses – traumatischer Stress jeglicher Form könne laut Möhler massive gesellschaftliche Folgekosten verursachen. Er müsse fachkundig und traumasensibel aufgedeckt und behandelt werden.
Die Psychologin sagt:
Laut Möhler gibt es aber eine gute Nachricht: Das kindliche Gehirn ist sehr plastisch, daher versprechen "traumatherapeutische Interventionen" gute Erfolgsergebnisse. Die spezifische Traumatherapie beruhe dabei etwa auf einer Trauma-Exposition. Sprich, das Kind geht das Erlebte noch einmal durch.
Möhler zufolge ist das aber nur ratsam, wenn das Kind in einer psychosozial stabilen, sicheren Situation lebt und eine stabile Zukunftsperspektive hat. "Leider trifft das nicht für alle Geflüchteten zu", meint sie. Deshalb gebe es spezifische Angebote, die auf diese Kinder in instabilen Lebenssituationen abzielen. Auch Yehor gehört wohl dazu.
Nach hundert Kriegstagen sei es seiner Familie gelungen, aus dem belagerten Mariupol in das friedliche Territorium der Ukraine zu fliehen. In einem Interview mit "Museum of Civilian Voices" im Juni 2022 sagt Yehor über seine Tagebucheinträge: "Ich dachte, dass jemand es finden und lesen würde. Ich wollte, dass alle wissen, was in Mariupol passiert."
Seine Mutter habe lange nichts von seiner Schreiberei gewusst. "Wir dachten, er würde malen. Und dann habe ich es zufällig gefunden", sagt sie. Yehors Aufzeichnungen seien ein großer Schock für sie gewesen und haben ihr die Tränen in die Augen getrieben. Die Worte ihres Sohnes seien "hart und schmerzhaft zu lesen."
Scham und Schuld seien die häufigsten Trauma-assoziierten Gefühle, erklärt Kinderpsychologin Möhler. Aber auch Trauer, Wut und berechtigter Ärger können präsent sein. Ihr zufolge reagiert der kindliche Organismus "gestresst", er ist aufgrund der Stresshormone dauernd in Anspannung. Daraus ergeben sich langfristige Folgen für die Kinder.
Möhler sagt:
Im Gehirn werden durch die Stresshormone vor allem Bereiche beeinträchtigt, die für Handlungsplanung, Impulskontrolle und Emotionsregulation zuständig sind, erklärt Möhler. Diese Funktionen leiden demnach dauerhaft unter dem "Misshandlungsstress".
Laut der Kinderpsychologin kann sich langfristig eine Störung der Impulskontrolle und Gefühlregulation entwickeln. Das heißt, die Kinder neigen zu heftigen Gefühlsausbrüchen wie Selbstverletzung oder Aggressionen. Auch entwickeln sie Möhler zufolge ein sehr negatives, auf Scham und Schuld basierendes Selbstkonzept. "Ihr Selbstwertgefühl leidet also oft auch stark unter dem Erlebten", meint die Kinderpsychologin.
Sie führt aus:
Yehors Schicksal ist eines von vielen. Die Plattform "Museum of Civilian Voices" dokumentiert das Erlebte von zahlreichen Kindern im Kriegsgebiet der Ukraine. Etwa die Geschichten von zwei jungen Geschwistern, die bei den russischen Angriffen ihre Eltern verlieren, sie im Garten begraben und sich dann allein bis zu den sicheren Gebieten durchschlagen.
Kinder, die vom Artilleriefeuer erzählen, von all dem Blut, die Angst und Trauer um tote Angehörige oder Freunde: Diese Kinder benötigen Unterstützung, um das Trauma Krieg zu verarbeiten.
Laut Möhler gibt es mittlerweile ein international bekanntes und gebräuchliches "Stressresilienztraining" speziell für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Es heiße Stress-Traumasymptoms-Arousal-Regulation-Treatment (kurz START). Für Kinder von 6 bis 12 Jahren wurde ein analoges Programm-START-Kids-entwickelt. Die Programme gebe es mittlerweile auch in ukrainischer Sprache.
Im Moment befindet sich Yehor mit seiner Familie in Kiew. Auch dort bestimmt der Krieg den Alltag. Schrillender Luftalarm und russische Raketenangriffe lassen den Jungen wohl nicht zur Ruhe kommen. Die Hoffnung bleibt jedoch: "Vielleicht können wir eines Tages nach Mariupol zurück," meint seine Mutter. Die Familie wolle unbedingt heimkehren – zu ihrem Haus ohne Dach und dem Teddy von Yehor, der unter dem Schutt begraben liegt.