Statt um die niedersächsische Wasserschutzpolizei wird sich Boris Pistorius in Zukunft um die Marine und die gesamte Armee kümmern.Bild: dpa / Hauke-Christian Dittrich
Analyse
17.01.2023, 15:0117.01.2023, 15:25
Die Spekulationen haben ein Ende: Der Nachfolgekandidat von Christine Lambrecht ist Boris Pistorius (beide SPD), der bisherige Innenminister von Niedersachsen. Er wird nun das Amt des Verteidigungsministers übernehmen. Dort gibt es für den Niedersachsen einiges zu tun.
Wo die wichtigsten Baustellen liegen, hat watson für euch zusammengefasst.
Material: 100 Milliarden wollen ausgegeben werden
Im vergangenen Jahr hat der Deutsche Bundestag ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr im Grundgesetz festgeschrieben. Eine Reaktion auf die von Kanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene Zeitenwende.
Aber eben auch eine Konsequenz der deutschen Verteidigungspolitik des 21. Jahrhunderts. Die Truppe war runtergewirtschaftet – zu wenig Ausrüstung, veraltetes und kaputtes Gerät. 77 Prozent der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr waren 2021 laut Jahresbericht der Wehrbeauftragten einsatzbereit. Mit dem Sondervermögen sollte die bedarfsgerechte Ausstattung der Bundeswehr schneller beschafft werden.
Vieles Gerät der Bundeswehr ist veraltet oder kaputt.Bild: dpa / Philipp Schulze
Viel passiert ist damit bisher aber nicht. Aus der großen Liste mit Dingen, die Lambrecht für die Truppe besorgen wollte, wurde vieles wieder herausgestrichen oder auf später vertagt. Bewilligt wurden bisher F35-Kampfjets für die Luftwaffe, moderne Funkgeräte, neue Gewehre. Die "Puma"-Schützenpanzer, für die ebenfalls Geld freigemacht werden sollte, wollte Lambrecht erstmal nicht nachbestellen.
Auch das militärische Gerät, das Deutschland aus den Beständen der Bundeswehr an die Ukraine geliefert hat, wurde bisher nicht wieder aufgefüllt. Natürlich, die Lieferung schwerer Waffen braucht Zeit – mitten in einem europäischen Krieg wohl noch einmal länger. Gleichzeitig verbrennt die Inflation das Sondervermögen, wenn das Geld nicht ausgegeben wird.
Pistorius muss nun also zügig eine Planung machen, was er für die Truppe beschaffen wird. Auch mit Blick darauf, wie lange die jeweiligen Lieferzeiten dauern. Was nämlich nicht passieren darf, ist, dass das deutsche Heer handlungsunfähig wird. Weil trotz Sondervermögen zu wenig verfügbare Ausrüstung vorhanden ist.
Einsatzbereitschaft aus dem Kaltstart
Apropos Handlungsfähigkeit. Eine weitere Baustelle für den Lambrecht-Nachfolger: Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. In ihrer aktuellen Verfassung kann die Bundeswehr ihre internationalen Verpflichtungen nicht erfüllen. Das ist das Ergebnis eines Berichts des Verteidigungsministeriums im Dezember 2022.
Die "Puma"-Schützenpanzer zählen zu den Sorgenkindern der Bundeswehr.Bild: dpa / Philipp Schulze
Auch hier ist das Problem wieder das Material: zu wenig, zu spät. Pistorius muss sich in Zukunft also für eine Art Vorhaltungssystem einsetzen. Wie die "Süddeutsche Zeitung" aus dem Dokument zitiert, gehe es in Zukunft darum, Material und Ausrüstung nicht erst unmittelbar vor dem Einsatz auszugeben.
Das heißt: Aktuell ist die Bundeswehr nicht in der Lage, blitzschnell auf neue Umstände zu reagieren und Personal wie Material kurzfristig an einen Einsatzort zu verlegen. Wie sich im Dezember zeigte, reicht die Einsatzkraft nicht einmal für Übungszwecke: Bei einer Übung der Panzergrenadierbrigade sind 18 von 18 "Puma"-Schützenpanzern ausgefallen.
Neustart im Beschaffungswesen
Ein großer Punkt, den der frisch gebackene Verteidigungsminister Pistorius angehen muss: das Beschaffungswesen. Der bürokratische Riese, der sich zwischen die Truppe und ihre Ausrüstung schiebt. Das schwerfällige und behäbige Beschaffungswesen behindert nicht nur den Ankauf von Schützenpanzern und Kampfjets, mit Kosten in Milliardenhöhe. Nein, es macht auch die Ausstattung mit Schutzwesten, Helmen oder langen Unterhosen zu einem langwierigen Prozess.
Kein Wunder also, dass auch Lambrecht diesen Papierriesen angehen wollte. In einem Gespräch mit dem "Spiegel" erklärte die Ex-Ministerin aber auch:
"Die Bundeswehr ist über Jahrzehnte herunter gespart worden und nun gibt es für mich richtig viel zu tun. Jetzt geht es darum, unaufgeregt, aber sehr konsequent nachzuholen, was nachzuholen ist."
Nicht nur die Beschaffung von schwerem Gerät und Munition ist ein Problem, sondern auch die von Kleidung.Bild: Bundeswehr / Torsten Kraatz
Im vergangenen Frühjahr hatte Lambrecht deshalb ein Eckpunktepapier für ein Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz im Bundeskabinett eingebracht. Ziel des Gesetzes ist es, Verfahren zur Prüfung und Nachprüfung von Beschaffungen für einige Jahre – einen für das Hochfahren der Einsatzbereitschaft nötigen Zeitraum – stark zu beschleunigen. Im Juli wurde das Gesetz verabschiedet.
Aus Sicht des Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbands, André Wüstner, ist trotzdem Luft nach oben. Wie eine Studie von Greenpeace ergeben hat, sind die wirtschaftlichen Defizite im deutschen Beschaffungswesen größer als in anderen Staaten. Auch, weil oft auf das modernste oder teuerste Gerät gesetzt würde – kurz: das Prestigeträchtigste.
Die Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Eva Högl, macht sich für die Belange der Soldat:innen stark.Bild: dpa / Michael Kappeler
Ähnlich fiel die Einschätzung der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) aus. Bei der Vorstellung des Wehrberichtes 2021 erklärte sie, es müsse alles beschafft werden, was auf dem Markt ist, statt auf die "Goldrandlösung" zu warten. Mit Goldrand meint die Wehrbeauftragte die prestigeträchtigen, teuren und hochmodernen Gerätschaften.
Auch Pistorius dürfte im Bereich Beschaffung also noch einmal nachschärfen – und wird, wie seine Vorgängerin, frühere Fehler der vergangenen Jahrzehnte ausbügeln müssen.
Stärkung der Strategiefähigkeit
In einem Eckpunktepapier hat der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, festgehalten, dass die Strategiefähigkeit der Bundeswehr weiter gestärkt werden müsse. Konkret gehe es darum, sicherheitsrelevante Trends früher zu erkennen. Und die daraus resultierenden Ableitungen in einen größeren Kontext zu stellen. Zorn wirbt in diesem Zusammenhang für einen "Nationalen Sicherheitsrat".
Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, gemeinsam mit der Ex-Verteidigungsministerin Lambrecht.Bild: IMAGO/Christian Spicker
Ein Vorschlag, der immer wieder aufs Tablet kommt. Im Koalitionsvertrag hatten sich die Ampelparteien darauf geeinigt, eine "Nationale Sicherheitsstrategie" zu erarbeiten. Die Vision: Eine nahtlose und zusammenhängende Sicherheits- und Außenpolitik. Vorgestellt werden sollte die neue Strategie eigentlich bei der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar.
Aktuell gibt es berechtigte Zweifel an der Umsetzbarkeit dieses Zeitplanes. Daher wird wohl auch Boris Pistorius noch seine Handschrift hinterlassen können und müssen. Was sich außerdem abzeichnet: eine veränderte Ausrichtung der Bundeswehr.
Vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine war die Bündnis- und Landesverteidigung ein nachrangiges Thema. Im Mittelpunkt standen stattdessen gefährliche Auslandseinsätze, wie in Afghanistan oder Mali. Den Hindukusch hat die Truppe bereits 2021 verlassen, das westafrikanische Land werden die deutschen Soldat:innen 2024 verlassen.
Viel zu spät wurden im Sommer 2021 die afghanischen Ortskräfte, wie in diesem US-Militärflugzeug, evakuiert.Bild: IMAGO/ZUMA Wire / imago images
Im Zuge der Zeitenwende hat sich die Regierung darauf verständigt, in Zukunft dem Zwei-Prozent-Ziel der Nato nachzukommen. Es sollen also jährlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgegeben werden. Eine Ankündigung, auf die Pistorius wird pochen müssen.
Verhältnis zwischen Ministerium und Truppe
Neben all den Baustellen in den Bereichen Finanzierung, Ausstattung und Aufstellung ist eine weitere Altlast, die Pistorius hinterlassen wird, eine skeptische Truppe. Nicht nur Lambrecht, auch viele Vorgänger:innen haben eine Kluft entstehen lassen zwischen Soldat:innen und Ministerium.
Zwischen denen, die im Ernstfall Freiheit und Demokratie für dieses Land unter Einsatz ihres Lebens verteidigen, und jenen, die sie in Einsätze schicken. Was Pistorius also schaffen muss, ist das Verhältnis zwischen Politik und Armee zu verbessern. Wichtig ist dafür, dass er die grundlegenden Probleme und Nöte versteht.
Das Vertrauen der Truppe zurückzuerlangen, dürfte für Pistorius eine große Aufgabe werden.Bild: dpa / Annette Riedl
In seinem Bundesland zählt Pistorius als Anpacker. Ob er der Aufgabe gewachsen ist, an der so viele Politiker:innen in der Vergangenheit scheiterten, bleibt abzuwarten. In Anbetracht der aktuellen Krisenlage hat der SPD-Mann allerdings keine Zeit, sich erst einmal in Ruhe einzuarbeiten. Stattdessen wird er ins kalte Wasser geworfen.