Die Türkei feiert 2023 ein bedeutendes Jubiläum. Die 85-Millionen-Republik wird 100 Jahre alt. 1923 ging das Land nach kriegerischen Jahren aus dem Osmanischen Reich hervor. Unter Gründervater Mustafa Kemal Atatürk wurden bedeutende Reformen umgesetzt, die Säkularisierung vorangetrieben und grundlegende demokratische Strukturen nach westlichem Vorbild geschaffen.
Nicht erst seit 2018, als ein von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan initiiertes Verfassungsreferendum in Kraft trat, das dem Machthaber weitergehende Exekutivrechte zusicherte, tauchen bezüglich demokratischer Funktionalität des türkischen Staates aber je länger, je mehr Fragezeichen auf. 2023 nun, ausgerechnet im Jubiläumsjahr, wird diese Funktionalität auf eine entscheidende Probe gestellt.
Erdoğan ist politisch angeschlagen, rekordhohe Inflationswerte und eine generell schwierige wirtschaftliche Situation für die Mehrheit der Menschen im Land haben die Popularität des seit 2014 als Präsident amtenden Machthabers und seiner Partei AKP deutlich schwinden lassen. Umfragen zufolge erhält die AKP aktuell kaum 30 Prozent Zustimmung im türkischen Volk.
Die Chancen der oppositionellen Kräfte in der Bosporus-Republik auf demokratischem Weg tatsächlich die Macht zu übernehmen, sind so gut wie noch nie, seit Erdoğan das Land führt – obwohl sich die Parteien verschiedener Lager ein halbes Jahr vor den Abstimmungen im Juni noch nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten, was das erklärte Ziel ist.
Erdoğan ist sich der Gefahr durchaus bewusst. Und er wählt gewiefte, aber höchst fragwürdige Schachzüge, um die Stimmung im Land irgendwie doch noch auf seine Seite kippen zu lassen und sich damit an der Macht zu halten. Da ist einerseits seine Drohung, Truppen und Panzer nach Syrien zu schicken, um dort kurdische Milizen zu vertreiben – angekündigt hat er dies schon früher, Spielraum zur Rechtfertigung dürften ihm Vorkommnisse wie der Terroranschlag in Istanbul Mitte November liefern.
Die offizielle Darstellung der türkischen Regierung zu den Hintergründen des Vorfalls ist dabei keineswegs hieb- und stichfest. Dass der Anschlag gänzlich inszeniert gewesen sein könnte, scheint zwar unwahrscheinlich, doch Experten, wie der US-amerikanische Nahostspezialist Seth Frantzman, unterstellen Erdoğan und seinen Leuten wenigstens die Erfindung einer propagandistischen Geschichte, um Militäraktionen gegen die Kurden rechtfertigen.
Die Motive für eine Bodenoffensive in Nordsyrien sind dabei vielfältig. Einerseits geht es tatsächlich um sicherheitspolitische und strategische Ziele, wie die Türkei-Expertin Hürcan Aslı Aksoy von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin erklärt. Erdoğan will unter anderem eine 30 Kilometer tiefe Pufferzone schaffen, um die Kurdenmiliz von der Türkei fernzuhalten.
Innenpolitisch dürfte es hingegen um etwas ganz anderes gehen. Erdoğan wäre nicht der erste Staatsführer, der vor Wahlen auf einen gemeinsamen Feind einschwört, um das eigene Volk zu einen und damit mehr Zustimmung zu erhalten. Expertin Aslı Aksoy geht fest davon aus, dass der türkische Machthaber noch vor den Wahlen in Nordsyrien einmarschiert: "Angesichts der innenpolitischen Kalkulationen und der internationalen Lage ist es sehr wahrscheinlich, dass Erdoğan eine Bodenoffensive in Nordsyrien anordnet und den Konflikt weiter eskaliert."
Das gleiche Motiv dürfte hinter den unverhohlenen Drohungen gegen EU- und Nato-Mitglied Griechenland stecken. Im Streit um Gasbohrungen und die angebliche militärische Aufrüstung auf griechischen Inseln droht der 68-Jährige dem Nachbarland in dreister (In-)Direktheit mit militärischen Übergriffen.
Dass sich die Türkei tatsächlich zu Militärinterventionen gegen den ungeliebten Nachbarn hinreißen lässt, ist aufgrund der EU- und Nato-Mitgliedschaft Griechenlands im Gegensatz zu einer Bodenintervention in Syrien zwar höchst unwahrscheinlich – doch vielleicht lässt sich ja alleine durch das Hochstilisieren des gemeinsamen Gegners ein Umdenken in einigen Köpfen des türkischen Volks herbeiführen, das Erdoğan bei den Wahlen einige Prozentpunkte mehr verschaffen könnte.
Doch damit ist die Trickkiste des türkischen Präsidenten noch nicht erschöpft. Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, gilt als womöglich vielversprechendster Kandidat vom oppositionellen Sechs-Parteien-Bündnis als gemeinsamer Herausforderer bei den Wahlen aufgestellt zu werden. Doch Imamoğlu wurde – wie passend – im Dezember zu einer Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt. Grund: Beamtenbeleidigung. Einhergehend mit der Strafe wurde dem Mitte-Links-Politiker – wie passend – ein Politikverbot auferlegt.
Zwar ist das Urteil aufgrund von Berufungen noch nicht rechtskräftig. Es scheint aber nicht unwahrscheinlich, dass das Verfahren bis zu den Wahlen abgeschlossen sein könnte. Erdoğan hätte den schärfsten Konkurrenten damit elegant aus dem Weg geschafft bekommen – auch wenn er selbst offiziell natürlich nichts mit dem Urteil zu tun hat.
Mitte Dezember hatte der 68-Jährige entsprechende Vorwürfe zurückgewiesen, und darauf hingewiesen, dass das türkische Justizsystem unabhängig sei. Objektiv betrachtet, lässt sich der gestiegene Einfluss der Regierung auf die Justiz und eine nur mehr spärlich existierende Gewaltentrennung seit dem Verfassungsreferendum 2017 aber nur schwerlich negieren.
Auch wenn Erdoğan aktuell so wenig Zustimmung im türkischen Volk genießt wie noch nie – mit den entsprechenden gewieften taktischen Manövern könnte es ihm durchaus gelingen, den Zuspruch für seine Person entscheidend zu erhöhen.
Falls nicht, dann dürfte die demokratische Funktionalität des türkischen Staates 100 Jahre nach der Gründung der Republik – wie eingangs erwähnt – auf eine entscheidende Probe gestellt werden.