Belastungen für die Psyche hält die aktuelle Zeit genügend bereit, doch einen Therapieplatz zu finden, ist nach wie vor schwer.Bild: pexels / darina belonogova
Analyse
03.08.2023, 08:0703.08.2023, 08:10
Rhodos und Sizilien brennen, in Deutschland jagt ein Unwetter das nächste, die Westschweiz muss sich von einem schweren Sturm samt Hagelschauer erholen, in Mailand treiben Eisschollen im Hochsommer durch die Gassen. Nach wie vor führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Gleichzeitig ist das Leben für viele Menschen in Deutschland kaum bezahlbar: hohe Mieten, hohe Lebensmittelpreise. Hinzu kommt Druck in der Arbeit, in der Uni, in der Schule. Die Coronajahre mitsamt ihren Einschränkungen hängen zudem noch immer nach.
Kurz gesagt: Belastungen für die Psyche hält die aktuelle Zeit genügend bereit. Hinzu kommen die kindlichen Traumata, die im Zweifel jede:r mit sich herumschleppt – manche mehr, andere weniger. Viele Menschen in Deutschland brauchen mindestens einmal in ihrem Leben Hilfe in Form von Psychotherapie. Doch an einen Platz zu kommen, ist nach wie vor schwer.
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Laut Bundesverband fehlen 1600 Therapieplätze
Kein Wunder. "Die Ampelregierung hat bisher nichts unternommen, um die Wartezeiten im psychotherapeutischen Bereich zu verkürzen", bemängelt die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) auf watson-Anfrage. Besonders im ländlichen und strukturschwachen Raum müssten mehr Therapeut:innen-Sitze geschaffen werden. Außerdem in ostdeutschen Großstädten und dem Ruhrgebiet. Sowohl im Bereich der Kinder- und Jugendtherapie, als auch für Erwachsene.
Dafür braucht es laut BPtK eine neue Bedarfsplanung. So müssten die Verhältniszahlen für Psychotherapeut:innen aus Sicht der Kammer um 20 Prozent abgesenkt werden. Das würde bedeuten, dass mehr Therapeut:innen auf die Einwohner:innenzahl verteilt werden. "Auf diese Weise würden rund 1600 neue Psychotherapeutensitze entstehen", rechnet die Kammer vor. Die meisten davon außerhalb von Großstädten.
Damit die Krankenkasse die Kosten übernimmt, muss der:die jeweilige Psychotherapeut:in kassenärztlich zugelassen sein. Und genau hier ist einer der Knackpunkte. Denn diese Zulassung gibt es nur für eine bestimmte Anzahl an Praxen. Diese Anzahl wiederum leitet sich von der Bedarfsplanung ab.
Die Planung wird im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) von Ärzten und Krankenkassen geregelt: Hinein spielen die demografische Struktur und die Einwohnerzahlen der Regionen, sowie die Finanzierung der Krankenkassen. Für gewöhnlich werden Sitze von Therapeut:innen-Generation zu Therapeut:innen-Generation weitergegeben.
Und das ist problematisch. Wie Psychiater und Psychotherapeut Arno Deister in einem früheren Gespräch mit watson erklärte, sei heutzutage die Schwelle, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, niedriger. Gerade junge Menschen nehmen mittlerweile das Angebot eher wahr, da die Stigmatisierung in Teilen weggefallen ist. Die Bedarfsplanung, meinte Deister damals, habe sich aber dem neuen Bedarf nicht angepasst.
Viele Menschen müssen irgendwann in ihrem Leben mindestens einmal zur Psychotherapie.Bild: pexels / cottonbro studio
Die BPtK fordert außerdem eine eigene Bedarfsplanungsgruppe für Kinder- und Jugendpsychotherapie. Was es zudem brauche: mehr psychotherapeutische Hilfe in der Lebenswelt der Kinder, zum Beispiel Sprechstunden in der Schule.
Deister schlug außerdem zwei Stellschrauben vor, an denen die Regierung drehen müsse: Mehr Kassenplätze und außerdem Strukturen, die ermitteln, wer eine schnelle Behandlung braucht und wer ein wenig länger warten kann.
Erleichterung bringt im Bereich Psychotherapie nicht den gewünschten Effekt
Zumindest theoretisch sollten eben diese Strukturen längst geschaffen sein. Seit 2019 gibt es nämlich das Terminservice- und Versorgungsgesetz. Die Idee dahinter: Schnellere Termine für Patient:innen. Laut einer Auswertung der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) für das Jahr 2022 klappt das im Bereich Psychotherapie allerdings nicht. Im Gegenteil: Die Lage habe sich für Betroffene sogar verschärft.
Nach wie vor ist die Suche nach einem Therapieplatz für viele Menschen mit Hürden verbunden.Bild: pexels / wendel moretti
Findet eine betroffene Person nämlich nachweislich keinen Kassenplatz, kann sie von der Krankenkasse die Kosten für eine private Therapie zurückfordern. Laut UPD führe das 2019 eingeführte Gesetz dazu, dass die Krankenkassen immer häufiger diese Kostenerstattungen ablehnten. Die Begründung: Betroffene hätten sich an die Terminservicestellen wenden können.
Die Servicestellen allerdings können nur Erstgespräche und Akuttherapie vermitteln. Und das telefonisch. Zwar kann mittlerweile das Erstgespräch über das Internet gebucht werden. Für alles Weitere heißt es aber: Telefonieren und in Warteschleifen hängen. Für Menschen in psychischen Notlagen kaum machbar.
Der Verband der Ersatzkassen kommt in einer Studie zu einem anderen Schluss: Die Lage habe sich sehr wohl verbessert in den vergangenen Jahren. So liege die Wartezeit zwischen dem Erstgespräch und der ersten Probestunde im Schnitt bei bis zu zwölf Tagen. Zwischen der letzten Probestunde und der ersten Stunde in der regulären Therapie seien es noch einmal bis zu 15 Tage.
Lauterbach will Versorgungslage verbessern
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will jetzt aber ran an die Versorgungslage. Aus dem Ministerium heißt es auf watson-Anfrage, aktuell werde in Abstimmung mit den maßgeblichen Akteur:innen geprüft, wie Wartezeiten reduziert werden könnten. Gerade für Kinder und Jugendliche, aber auch im ländlichen und strukturschwachen Raum. Was außerdem verbessert werden soll: der Zugang zur Versorgung für Menschen mit schweren psychologischen Erkrankungen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) möchte die psychotherapeutische Versorgung verbessern.Bild: dpa / Britta Pedersen
"Die gesetzlichen Änderungen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung sollen in eine kommende Gesetzesinitiative eingebracht werden", heißt es weiter. Bereits in den vergangenen Jahren sei außerdem die Anzahl der Psychotherapeut:innen in der vertragsärztlichen Versorgung gestiegen. "Inzwischen stellen sie nach den Hausärztinnen und Hausärzten die zweitgrößte Arztgruppe dar", macht das Ministerium deutlich.
Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie solle das Versorgungsniveau noch einmal um zehn Prozent gehoben werden. Das würde bundesweit circa 60 neue Niederlassungsmöglichkeiten bedeuten.
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